Die Vergessene Welt
Pfau, und Summerlee ist still
geworden, aber immer noch skeptisch. Der nächste Tag wird
wohl einige unserer Zweifel klären. Inzwischen will ich diesen
Brief mit Jose zurückschicken. Er hat sich den Arm an
zersplittertem Bambus verletzt und besteht darauf, umzukehren.
Wir hoffen, daß er den Weg zurück findet.
Ich füge dem Brief eine Kartenskizze bei, die den Weg zeigt,
den unsere Expedition bisher genommen hat, seit wir den
Amazonas verließen.
#9
Wer hätte das voraussehen können?
§
Etwas Schreckliches ist geschehen. Wer hätte das
voraussehen können? Das Ende unserer Notlage ist nicht
abzusehen. Wir sind möglicherweise dazu verurteilt, den Rest
unseres Lebens an diesem seltsamen, unzugänglichen Ort zu
verbringen. Ich bin noch dermaßen verwirrt, daß ich weder
unsere gegenwärtige Situation noch unsere Aussichten für die
Zukunft ganz überschauen kann. Meinen betäubten Sinnen
erscheint beides äußerst gefährlich und schwarz wie die Nacht.
Noch nie hat sich jemand in einer schlimmeren Lage
befunden. Es wäre nutzlos, unsere genaue geografische
Position anzugeben und unsere Freunde um Entsendung einer
Rettungsexpedition zu bitten. Selbst wenn Hilfe käme, wäre
aller menschlichen Voraussicht nach unser Schicksal schon
lange vor ihrem Eintreffen besiegelt.
Wir sind von menschlicher Hilfe ebenso weit entfernt, wie
wenn wir uns auf dem Mond befänden. Sollte es uns vergönnt
sein, durchzukommen, so kann uns das nur aus eigener Kraft
gelingen. Ich habe drei hervorragende Männer als
Leidensgenossen, Männer mit gesundem Verstand und
unerschütterlichem Mut. Solange ich auf die zuversichtlichen
Gesichter meiner Kameraden blicke, erhellt sich die Finsternis
für mich etwas. Ich kann nur hoffen, daß ich äußerlich ebenso
unbekümmert wirke wie sie. Insgeheim aber bin ich voller
Furcht.
Ich will jedoch die Ereignisse, die zu dieser Katastrophe
geführt haben, der Reihe nach und in allen Einzelheiten
erzählen. Mein letzter Brief schloß mit der Feststellung, daß wir
sieben Meilen vor einer Linie rotbrauner Klippen lagerten,
hinter denen zweifellos jenes Plateau liegt, von dem Professor
Challenger erzählt hatte. Beim Näherkommen erschienen sie
mir teilweise noch höher, als er angegeben hatte – einzelne
Abschnitte ragten wenigstens tausend Fuß hoch auf, und waren
auf eine sonderbare, meines Wissens für Basaltformationen
charakteristische Art gestreift. Auf der Oberkante üppiger
Pflanzenwuchs, mit Büschen dicht am Rande und vielen
hohen Bäumen dahinter. Von Lebewesen war nichts zu sehen.
An diesem Abend schlugen wir unser Lager unmittelbar
am Fuß der Klippen auf – an einer wüsten und verlassenen
Stelle. Die Felsen über uns stiegen nicht nur senkrecht auf,
sondern hingen stellenweise sogar über, so daß an ein Klettern
nicht zu denken war. Ganz in unserer Nähe stand eine hohe
dünne Felsenzinne. Sie wirkte wie ein roter Kirchturm. Ihre
Spitze lag mit dem Plateau auf gleicher Höhe. Dazwischen
aber gähnte ein tiefer Abgrund. Auf ihrer Spitze stand ein hoher
Baum. Sowohl der Turm als auch der vor uns liegende
Abschnitt der Klippen war verhältnismäßig niedrig – nach
meiner Schätzung allenfalls fünf- bis sechshundert Fuß.
»Da droben«, sagte Professor Challenger und zeigte auf den
Baum, »hockte der Pterodactylos. Ich bin den halben Felsen
hinaufgeklettert, um ihn zu schießen. Es ist anzunehmen, daß
ein guter Bergsteiger wie ich sich bis zur Spitze hinaufarbeiten
kann. Damit käme er allerdings dem Plateau um keinen Schritt
näher.«
Als Challenger von seinem Pterodactylos sprach,
beobachtete ich Professor Summerlee. Zum erstenmal glaubte
ich, gewisse Anzeichen für eine aufkeimende Überzeugung und
ein schlechtes Gewissen zu bemerken. Auf seinen dünnen
Lippen fehlte das sonst ständig zur Schau getragene
verächtliche Lächeln. Sein Gesicht war gespannt, erregt und
erstaunt. Challenger merkte es natürlich sofort und kostete den
Vorgeschmack seines Sieges voll aus.
»Natürlich«, sagte er spöttisch, »Professor Summerlee weiß,
daß ich einen Storch meine, wenn ich von einem Pterodactylos
spreche. Aber diese Art Storch hat keine Federn, sondern eine
lederartige Haut, membranartige Flügel und Zähne im
Schnabel.« Er grinste, zwinkerte und verbeugte sich, bis
Professor Summerlee sich umdrehte und davonstapfte.
§
Am nächsten Morgen, nach einem kärglichen Frühstück,
das nur aus Kaffee und Maniok
Weitere Kostenlose Bücher