Die vergessenen Schwestern (Hackenholts erster Fall) (German Edition)
freigestellt ist.« Resigniert schüttelte Wünnenberg den Kopf. »Verstehst du, sie hat mich nicht einmal gefragt. Sie wollte mich nur über ihre Pläne in Kenntnis setzen, bevor sie zu packen anfängt.«
In Hackenholts Ohren klang es nach dem Anfang vom Ende der sowieso schon äußerst schwierigen Beziehung. Er konnte die Verzweiflung nachfühlen, die in Wünnenbergs Stimme mitschwang. Die Angst vor der Einsamkeit und das Gefühl des Verlassenseins kannte er nur zu gut: Seine damalige Freundin und er hatten gerade mit der Planung ihrer Hochzeit begonnen, als bei Svenja Leukämie diagnostiziert worden war. Die sofortige Chemotherapie hatte ihr nicht geholfen, sondern das Ende eher noch beschleunigt.
Hackenholt hatte damals auf unbestimmte Zeit unbezahlten Urlaub genommen, um die letzten Wochen mit ihr verbringen zu können – ihnen war weniger als ein Vierteljahr geblieben. Nach Svenjas Tod hatte es viele Monate gedauert, bis er sich und sein Leben wieder in den Griff bekam. So richtig war ihm das erst gelungen, nachdem er seiner Heimatstadt Münster den Rücken gekehrt und seine dortige Stelle mit einem Kollegen getauscht hatte, der von Nürnberg unbedingt nach Nordrhein-Westfalen wechseln wollte.
Bevor der Hauptkommissar jedoch dazu kam, Wünnenberg Mut zuzusprechen, klingelte plötzlich sein Diensthandy.
Es war Viertel vor zwei Uhr morgens, am Samstag, dem 5. Oktober.
Lila – 1
Da sie kein Auto hatte, musste sie fast zwei Stunden lang zu Fuß nach Hause laufen. Der Bus fuhr schon lange nicht mehr. Unterwegs überlegte es sich das Wetter dann auch noch anders, und feiner, aber umso hartnäckigerer Sprühregen hüllte sie ein. Als sie endlich daheim ankam, waren ihre Haare durchnässt, ihre Kleidung klamm und ihre Finger gefühllos.
Achtlos warf sie ihren Rucksack auf den Boden und ging ins Badezimmer, wo die Heizung noch immer auf höchster Stufe lief, weil sie mal wieder vergessen hatte, sie herunter zu drehen. Nun war sie froh darüber. Ihre Kleider ließ sie achtlos auf den Boden fallen, bevor sie in die enge Duschkabine stieg. Erst nachdem das warme Wasser lange Zeit auf ihren Körper geprasselt war, begannen sich ihre Muskeln allmählich zu entspannen.
In ihren vorgewärmten Bademantel gehüllt, lief sie schließlich ins Wohnzimmer. Ein hübscher, verwinkelter Raum mit einem angrenzenden Wintergarten, der ins Grüne hinausblickte. Manchmal konnte man um die Jahreszeit im morgendlich aufsteigenden Nebel Hasen auf der Wiese vor dem Waldrand beobachten. Einmal war es auch ein Reh. Nun aber hatte sie keinen Nerv für solche Gedanken.
Auf kürzestem Weg ging sie zum Bild ihrer jüngeren Schwester hinüber, das auf dem kleinen Konsoltisch stand und ließ zärtlich ihre Finger über das Gesicht gleiten. Mit einem wehmütigen Lächeln zündete sie die Kerzen an, die auf dem Tisch verteilt waren.
3
Als Hackenholt und Wünnenberg in der Meuschelstraße ankamen, sahen sie die Fahrzeuge des Kriminaldauerdienstes, der Spurensicherung und zwei Streifenwagen vor dem Haus stehen. Auf der Straße hatte sich zwar ausnahmsweise noch keine Menschenansammlung gebildet, aber ein Blick auf die umliegenden Häuser zeigte, dass die Arbeit der Polizei dennoch nicht unbeobachtet blieb. Hackenholt seufzte im Stillen und nickte dem Streifenbeamten zu, als er sich an ihm vorbei durch die Eingangstür schob.
Im Hausflur trat ihnen Christian Berger entgegen, ein junger Streifenpolizist, der mit seiner Kollegin als Erster am Einsatzort angekommen war.
»Wisst ihr schon, wer der Tote ist?«, fragte Wünnenberg nach einer knappen Begrüßung.
»Er heißt Peter Siebert, ist dreiundvierzig Jahre alt und hat hier im zweiten Stock gewohnt«, antwortete Berger sofort und fügte, die nächste Frage vorwegnehmend, hinzu: »Gefunden wurde er von einem Jungen namens Dominik Schwartz und dessen Vater. Beide wohnen im dritten Stock. Die Kollegen vom Dauerdienst sind bei ihnen.«
Wünnenberg murmelte einen Dank und steckte das Notizbuch weg, in das er die Namen notiert hatte. In diesem Augenblick erschien Christine Mur, die Leiterin der Spurensicherung, auf dem Treppenabsatz über ihnen. In Hackenholts Augen war sie eine der fähigsten Beamtinnen, die es im Präsidium gab. Zugegeben, manchmal war sie etwas ruppig, aber ihre besonnene und umsichtige Arbeitsweise hatte ihnen schon oft Anhaltspunkte geliefert, die andernfalls mit ziemlicher Sicherheit unentdeckt geblieben wären. Daher freute er sich, sie hier zu sehen.
»Ihr
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