Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
einige Papiere hervorholt.
»Du kennst doch Rainer, oder?«
»Oh nein.«
»Doch! ... Er arbeitet gerade an einer Reportage.«
Wieder einer der Revoluzzerfreunde seines Vaters. Warum musste er ausgerechnet jetzt damit anfangen?
»Es geht um einen Mordfall.«
»Hat er mal wieder den wahren Mörder von John F. Kennedy gefunden?«
»Nein, du Esel ... Diesmal hat er eine richtig schlimme Sache aufgedeckt ... Rainer kannte einen jungen Historiker ... Jonathan Lautenbach ... der ist vor zwei Wochen mit seinem Wagen im Odenwald gegen einen Baum gefahren ... und gestorben.«
Kimski verschränkt die Arme und lehnt sich zurück.
»Die Polizei hat festgestellt ... dass es gewisse Unstimmigkeiten bei der Todesursache gab.«
»Was du nicht sagst.«
»Es kommt noch besser ... Rainer wusste, dass Jonathan gerade dabei war, etwas aufzudecken.«
»Und jetzt meint dein Freund Rainer, der Historiker wurde ermordet, und er ist sich sicher, dass irgendeine kapitalistische Verschwörung dahintersteckt?«
»Richtig ... Endlich verstehst du mal was! ... Er hat sogar einen Verdacht und weiß, in welche Richtung man ermitteln muss ... Leider hören deine ignoranten Polizeifreunde nicht auf ihn.«
»Das sind nicht meine Freunde.«
»Ich dachte ...«, fährt der Vater fort, ohne seinem Sohn zuzuhören, »du könntest uns jetzt weiterhelfen ... Immerhin kennst du dich mit den Bullen aus, weißt, wie die ticken ... Du hast doch noch Kontakte.«
»Ich habe bei den Bullen – wenn ich bei deiner Wortwahl bleiben darf – gekündigt. Und was Rainers Verschwörungstheorien betrifft, weiß ich nicht, ob ich der richtige Ansprechpartner bin.«
»Doch, doch! ... Denk an deinen jüdischen Vorfahren.«
»Was hat der denn damit zu tun?«
»Mehr als du denkst ... Jonathan hat sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt.«
»Zweiter Weltkrieg?«
»Ja ... Er war gerade dabei, die letzten Überlebenden einer deutschen Widerstandsgruppe ausfindig zu machen, die niemals für ihre Courage geehrt wurde ... wie all die anderen auch.«
»Widerstandsgruppe?«, fragt Kimski und beugt sich vor.
»Hitlers zahlreiche Gegner wurden nach dem Krieg einfach totgeschwiegen … Wusstest du das nicht? ... Selbst heute gibt es noch Leute, die mit Gewalt verhindern wollen ... dass die Öffentlichkeit von ihnen erfährt ... Ist das nicht eindeutig?«
»Beruhig dich«, sagt Kimski und legt seinem Vater die Hand auf die Stirn.
»Du regst dich wieder zu sehr auf.«
»Es ist doch wahr!«
Kimski steht auf.
»Ich nehme das mal mit und sehe es mir an.«
»Lisa?« Adelbert Kampowskis brüchige Stimme schallt durch den Flur. Der alte Mann sitzt in seinem Rollstuhl am Fenster in der Bibliothek und starrt nach draußen, in die Ferne. Es dauert nicht lang, bis das Hausmädchen neben ihm auftaucht.
»Sie haben nach mir gerufen?« Er will den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, aber stattdessen räuspert er sich nur und schweigt einen Moment.
»Geht es Ihnen gut? Soll ich Ihren Pfleger holen?«
»Nein. Nein. Bitte Lisa, bringen Sie mir doch die Unterlagen. Sie wissen schon, die Akten, die Sie mir neulich aus dem Keller geholt haben.«
»Sie meinen die Unterlagen, die ich so verstecken sollte, damit Ihre Frau sie nicht findet?«
»Genau die.«
Sie schüttelt den Kopf und geht weg. Eine Minute später steht sie wieder vor ihm und reicht ihm die schmale Akte.
»Aber vergessen Sie nicht, dass Sie sich schonen sollen. Ich weiß nicht, was das wieder für ein Geheimnis ist, aber der Doktor hat gesagt ...«
»Ist schon gut. Gehen Sie bitte.«
Sie zuckt mit den Schultern und verlässt das Zimmer. Adelbert legt die Mappe auf seine Knie. Seine
Hände zittern, als er sie aufschlägt. Er liest langsam und bedächtig. Vor seinem inneren Auge stellt sich die Vergangenheit wieder ein.
Die bis dahin grauen Schatten vager Erinnerung werden zu klaren Bildern, strahlend, voller Leben. Nach nur wenigen Seiten spürt er, wie seine Kräfte nachlassen. Das Bisschen reicht für heute, er schlägt die Akte zu, die ihm darauf aus der Hand fällt.
»Herr Kampowski!«
Adelbert nimmt verschwommen Lisas Konturen wahr. Sie beugt sich hinab, richtet sich auf mit der Akte in der Hand.
»Es, es ist nichts.«
»Soll ich nicht doch den Pfleger ...«
»Es ist nichts. Gehen Sie, bitte«, wehrt er ab.
Sie verschwindet wieder aus seinem Blickfeld und Adelbert tastet sich zu dem Tisch neben sich vor. Wasser. Dort steht ein Wasserglas. Er muss etwas trinken, dann wird es ihm besser
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