Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
»Hallo?«
Keine Antwort.
Eva setzt sich an den leeren Schreibtisch in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr liegt das Dossier, das Kimski von seinem Vater bekommen hat. Unterzeichnet hat es ein gewisser Rainer Bergmann. Was hinter dem Tod des jungen Historikers steckt, hat Kimski noch gar nicht weiter untersucht. Dabei könnte das Dossier den Schlüssel enthalten, um den Zusammenhang der jüngsten Entwicklungen zu verstehen. Eva nimmt sich vor, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen.
Sie packt ihren Laptop aus und findet problemlos Rainer Bergmanns Rufnummer in der Onlineversion des Telefonbuchs. Sie ruft ihn an und stellt sich als Kimskis Bekannte vor.
»Hab ich mir doch gedacht, dass der junge Kimski sich dafür interessieren wird.«
»Ach ja?«
»Ja. Ich kenn ihn schon, da war der noch ein richtiger Zwoggel. Ich wusste immer schon, dass der Junge kein richtiger Bulle ist. Dafür ist er viel zu feinfühlig.«
»Ihr habt wohl alle kein besonders gutes Bild von der Polizei?«
»Mein Bild von der Staatsgewalt hat sich spätestens seit der Hinrichtung von Benno Ohnesorg gewandelt. Damals war ich ja noch ziemlich jung. Ende der Sechziger ging ich noch in die Schule. Erst später fand ich heraus, dass der deutsche Polizeiapparat nach dem Krieg von Altnazis wieder aufgebaut worden war.«
Damit hat er nicht ganz unrecht, übertreibt aber auch ein wenig. Es war nicht der ganze Polizeiapparat von Naziverbrechern unterwandert.
»Kommen wir zurück zu Ihrem Bericht. Sie erwähnen dort keine Namen.«
»Das ist ja nur ein Schmierzettel, um Neugier zu wecken.«
»Sie schreiben, Jonathan Lautenbach hätte in Heidelberg einen Kriegsverbrecher aufgesucht. Verriet er Ihnen den Namen des Mannes?«
»Nein, er hat mir den Namen nicht gesagt.«
Mist.
»Aber es muss sehr schwierig gewesen sein, ihn überhaupt ausfindig zu machen.«
»Hatte er sich gut versteckt?«
»Sozusagen. Er hatte einen neuen Namen angenommen.«
Einen neuen Namen. Eva kommt ein Gedanke, der sie zusammenfahren lässt. »Ich rufe Sie später noch mal an.«
»Aber ich habe doch noch gar nicht alles ...«
Eva hängt auf und wählt umgehend Kimskis Handynummer.
»Der gewünschte Gesprächspartner ist momentan nicht zu erreichen«, teilt ihm eine Stimme auf dem Band mit.
Cazzo! Kann es wirklich so gewesen sein? Wenn ja, dann ist vielleicht alles doch ganz einfach.
Ihr kommt noch eine Idee. Wie hieß doch gleich dieser SS-Typ? Schulze, hat Kimski gesagt. Eva öffnet das Fenster ihres Webbrowsers erneut, ruft die Google-Suchmaschine auf und gibt auf gut Glück die Begriffe Schulze und Schloss-Wolfsbrunnenweg ein. Die Suche dauert 0,17 Sekunden, wie sie dem oberen Rand der neu aufgebauten Seite entnimmt. Die ersten zehn von insgesamt dreiunddreißig Suchergebnissen werden angezeigt. Wer hätte gedacht, dass es so einfach werden würde? Treffer für Treffer klickt sie sich durch die Ergebnisse.
Kimski entdeckt Adelbert Kampowski im großen Salon im Erdgeschoss der Villa. Der Alte hängt wie bei seinem letzten Besuch etwas schief im Rollstuhl und klammert sich mit beiden Armen an den Lehnen fest, so als hätte er Angst herauszufallen. Das Licht des Leuchters ist gedimmt und im Halbdunkel wirkt er wie ein Schatten seiner selbst. Sein rasselnder Atem ist laut und deutlich im gesamten Raum zu hören.
»Da sind Sie ja endlich.«
»Die Tür war offen«, sagt Kimski, der sich mit dem Degen in der Hand im Türrahmen stehend komisch vorkommt.
»Ich bat darum, die Tür offen zu lassen. Ich hätte Ihnen ja schlecht öffnen können.«
»Wo ist Ihre Frau? Und das Personal?«
»Ich musste sie wegschicken.«
»Warum?«
Der Alte antwortet Kimski nicht. Dann betätigt er einen Schalter und der Rollstuhl setzt sich quietschend in Bewegung. Er fährt auf Kimski zu und bleibt genau vor ihm stehen. Er mustert ihn mit starrem Blick eingehend.
»Was machen Sie mit meinem Degen?«
»Lag vor der Tür.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Was soll denn die Waffe vor der Tür? Legen Sie den Degen weg.«
Kimski sieht sich um. Die Waffe legt er auf eine Kommode zu seiner Rechten. Als er sich wieder umdreht, ist der Alte bereits ein Stück zurückgefahren.
»Ich bin eigentlich gekommen, weil ich mit Ihrer Frau sprechen muss.«
»Sie müssen gar nichts!«
»Bitte?«
In was für eine skurrile Situation ist er nun schon wieder geraten? Kampowski allein zu Haus, bettlägerig, unfähig, sich allein zu versorgen, schickt alle Hausbewohner fort. Und schreit Kimski an. Aber warum
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