Die verlorene Koenigin
»Wir sind angekommen.«
Tania öffnete die Augen. Der Mond war verschwunden und der Gesang verstummt.
»Was ist passiert?«, stieß Tania hervor. Sancha deutete nach hinten. Der Vollmond lag nun achterau s – noch immer unglaublich groß, aber nicht mehr ganz so hell. Eden und der König standen an der Reling. Oberon hatte seiner Tochter den Arm um die Schultern gelegt.
»Zara hat den Wind für unsere Segel herbeigeflötet, Eden und der König haben uns den Kurs gewiesen«, sagte Sancha. »Seht, unter uns liegt Ynis Logris.«
Das Schiff durchschnitt über den Wellen die Luft, mit vollen Segeln und leise knarzendem Rumpf. Weit unter ihnen auf dem dunklen Meeresbusen befand sich eine Insel, in der Mitte grüne Hügel, umgeben von einem weißen Sandgürtel. Drei Galeonen ankerten in einer flachen Bucht auf der dem Schiff zugewandten Seite der Insel. Kleine Ruderboote fuhren hin und her, brachten Festteilnehmer und Proviant zum Ufer. Etwas höher an dem weitläufigen Sandstrand waren Feuer entfacht worden, und als sich Tania über den Bug beugte, stieg ihr der angenehme Geruch von Holzrauch in die Nase.
Die Wolkenseglerin begann jetzt den Sinkflug und steuerte langsam in einem großen Bogen die Insel an. Das Schiff setzte so sanft auf den Wellen auf, dass Tania es gar nicht gemerkt hätte, wenn sie nicht mit wild klopfendem Herzen beobachtet hätte, wie der Kiel das Wasser zerteilte und die Gischt aufspritzen ließ.
Die Windseglerin machte neben den anderen drei Schiffen halt. Befehle erschollen, die Anker wurden ausgeworfen und die Segel eingerollt. Zu beiden Seiten des Schiffes wurden Ruderboote hinuntergelassen.
»Und jetzt?«, fragte Tania leise.
»Jetzt gehen wir an Land«, sagte Cordelia. »Die Feuer sind entfacht und für Unterhaltung ist ebenfalls gesorgt: Nun können die Festlichkeiten beginnen!« Noch während sie sprach, sauste etwas im Sturzflug aus dem Nachthimmel auf sie zu, Augenblicke später saß Windgleiter auf ihrem Unterarm.
»Fürwahr, mein Freund«, sagte Cordelia zu dem Vogel. »Du hast Recht. Es war eine lange Zeit der Trauer, seit wir das letzte Mal den Fuß auf den tanzenden Sand von Ynis Logris gesetzt haben. Aber heute Nacht wird alles anders werden.«
Eden kam über das Deck auf Tania zu. »Komm«, sagte sie und reichte ihr die Hand. »Unser Boot wartet schon.«
Die Festivitäten nahmen die ganze Länge des weißen Strandes ein. Tania wandelte begeistert unter den Feiernden hin und he r – manchmal zusammen mit einer oder zweien ihrer Schwestern, manchmal allei n – und sah zu, wie hochwohlgeborene Lords und Ladys sich neben Lakaien, Dienern und Stallburschen vergnügten. Küchenmägde tanzten mit Grafen. Eine Marquise sang ein Duett mit einem Gärtner, ein Stallbursche erzählte einer Prinzessin einen Witz. Für die Länge einer Nacht waren alle Elfen unter dem Mond der Reisenden gleich.
Neben den Feuerstellen waren Tische aufgestellt, beladen mit Krügen voll rubinroter, weißer und leuchtend gelber Fruchtsäfte sowie mit Schalen voller Obst und Leckereien: Honigkuchen, süße Torten, im Feuer geröstete Kastanien und Naschzeug, das mit Zuckerguss überzogen war.
Tania traf auf Hopie und ihren Ehemann Lord Brythus, und sie spazierten eine Weile gemeinsam am Meeresufer entlang, lauschten der Musik und dem Gelächter, die sich mit dem sanften Rauschen der Brandung mischten.
»Du hast gar nicht nach Rathina gefragt«, sagte Hopie und blieb stehen, wobei sie sich bei ihrem Mann untergehakt hielt. »Möchtest du nicht erfahren, wie es ihr erging?«
Tania blickte ihre Schwester verlegen an. »Ich habe gesehen, dass sie nicht hier ist«, sagte sie. »Ist sie okay?«
»Ist sie o…kay?«, wiederholte Hopie langsam, als müsse sie sich das sonderbare Wort auf der Zunge zergehen lassen. »Nein, liebe Tania, ich vermag nicht zu sagen, dass unsere Schwester okay ist.«
Tania erinnerte sich noch lebhaft an das letzte Mal, als sie Rathina im Lichtsaal gesehen hatte. In allerletzter Minute war Oberon erschienen, um Tania aus den Fängen von Lord Drake zu retten. Nachdem nämlich sein Plan fehlgeschlagen war, durch eine Verbindung mit Tania die Gabe des Weltenspringens zu erlangen, hätte er ihr beinahe etwas angetan. Rathina hatte daraufhin zugegeben, an seinen finsteren Machenschaften beteiligt gewesen zu sein, und ihre Liebe zu ihm gestanden.
Die letzten Worte, die sie an Tania gerichtet hatte, hatten sich tief ins Gedächtnis der Schwester eingebrannt: Ich hasse dich. Ich
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