Die verlorene Koenigin
führte Tania Sancha und Zara durch das Haus. Cordelia kam nicht mit. Sie wollte lieber auf der Schwelle der Tür, die in den Garten hinausführte, sitzen und ins Grüne blicken, die Hände im Schoß verschränkt. Die Welt der Sterblichen schien ihr aufs Gemüt zu schlage n – mehr als den anderen.
Obwohl Zara und Sancha aufgrund der Geschehnisse unter Schock standen, waren sie doch neugierig, was das Haus betraf. Sie stellten unzählige Fragen und wollten wissen, ob alle Räume nur für Tania allein bestimmt seien. Tania erklärte ihnen, dass sie hier mit ihren Eltern lebte, die aber momentan im Urlaub seien.
Sancha wollte den genauen Nutzen und Gebrauch von allen Gegenständen erfahren, die ihr gezeigt wurden. Zara wanderte wie ein verwirrtes Kind in den Räumen umher, ließ die Hände über die Möbel gleiten und prägte sich alle Oberflächen und Konturen ein.
»Und wozu dient diese graue Tafel?«, fragte Sancha mit einem Blick auf den Fernseher in der Ecke des Wohnzimmers.
»Ich zeig’s euch.« Tania nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete das Gerät ein. Es lief gerade irgendeine Talkshow. Sancha machte ein erstauntes Gesicht und berührte den Bildschirm.
»Das ist kühl wie Glas«, wisperte sie. Sie sah Tania an. »Sind die Leute in der Tafel drin? Es scheint, wir sehen sie von Weitem. Zara, schau nur: Das ist wie die Gabe unserer Mutter.«
Zara blickte erstaunt auf den Fernseher. »Das ist so etwas wie ein Puppentheater!«
»Was heißt das: ›Wie die Gabe unserer Mutter‹?«, wandte sich Tania an Sancha.
»Die Königin kann durch stilles, klares Wasser hindurch zu weit entfernten Orten sehen«, antwortete Sancha. »Aber sag mir, haben alle Sterblichen solche Geräte? Kannst du deins auch dazu benutzen, um das Versteck eines Feindes zu finden und seine Pläne auszuspionieren? Das wäre in unserer jetzigen Situation äußerst hilfreich.«
»Leider nicht«, sagte Tania. »Ich kann mir nicht aussuchen, was ich seh e – na ja, doch, irgendwie schon, aber nicht so, wie du meinst.«
Sie überlegte, wie sie ihren Schwestern bloß die moderne Technik erklären sollte, und ihr wurde schwindelig. »Es funktioniert mithilfe einer Kraft, die Elektrizität genannt wird«, meinte sie. »Das ist ein bisschen kompliziert.«
»Das Schauspiel hier verstehe ich nicht!«, entgegnete Zara. »Diese Mimen reden viel zu schnell und lassen ihrem Gegenüber gar keine Zeit, etwas zu erwidern.« Sie rief in Richtung Fernseher: »Sprecht langsamer, ich bitte Euch!«
»Sie können dich nicht hören«, sagte Tania. »Und das ist kein Schauspiel, Zara, sondern rea l … gewissermaßen.«
Sancha runzelte die Stirn. »Du sagst, es ist kein Spiel, und doch kann man bei dieser Unterhaltung nicht mitreden. Zu welchem Zweck dient es dann?«
»Es soll unterhalten«, sagte Tania. Sie seufzte. »Aber das ist meistens gar nicht der Fall.« Sie drückte auf die Fernbedienung und der Bildschirm wurde wieder schwarz. »Sollen wir mal nachsehen, was Cordelia macht?«
Sie gingen in die Küche zurück. Cordelia hockte noch immer im Schneidersitz auf der Türschwelle zum Garten. Ein Rotkehlchen saß auf ihrer Hand, und sie lauschte lächelnd seinen Tschilp-Rufen.
Als die drei hereinkamen, flatterte der Vogel nervös auf der Stelle und flog dann in wildem Auf und Ab durch den Garten.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Tania. »Haben wir ihn erschreckt?«
»Vielleicht ein bisschen«, sagte Cordelia und stand auf. »Es ist ein Weibchen. Sie spricht sehr gut von deinem sterblichen Vater, Tania. Sie sagt, dass er im Garten mit ihr redet und für sie Würmer zum Essen ausgräbt. Sie ist sehr glücklich hier.« Cordelia lächelte. »Darüber bin ich froh.«
Tania erwiderte das Lächeln ihrer Schwester. »Vielleicht ist die Welt der Sterblichen gar nicht so schrecklich, wie du immer dachtest.«
Cordelia sah sie nachdenklich an. »Bevor ich das glaube, muss ich weit mehr erfahren.«
Ungefähr eine halbe Stunde später traf Edric ein. Tania hatte ihm via Telefon nur das Nötigste mitgeteilt, und es nahm sie mit, wie erschüttert er war, als Sancha ihm die Geschichte von der Befreiung des Hexenkönigs erzählte.
Sie waren nun alle im Wohnzimmer versammelt, drängten sich eng aneinander wie Überlebende einer Katastrophe. Edric konnte kaum eine Minute still sitzen bleiben. Ständig lief er auf und ab.
»Sind wir hier sicher?«, wollte er wissen. »Wie lange wird es dauern, bis die Grauen Ritter uns aufgespürt haben?«
»Mindestens
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