Die Vermessung der Lust (German Edition)
Simone. Wollte sie denn nie mehr gehen? Und wo blieb Lars? Musste er der Alten die Post auch noch öffnen und vorlesen, oder was?
»Ja, cool«, sagte Dora und zog den richtigen Ordner aus dem Regal. »Ich hab ja deine Nummer, ich ruf dich an, wir machen was aus. Okay?« Es war wieder der falsche Ordner.
»Ja okay«, musste Simone klein beigeben. Sie sah nicht glücklich dabei aus.
Endlich. Dora stellte auch diesen Ordner zurück und griff den nächsten. Es war nicht nur wieder der falsche, er war auch schwerer als erwartet und rutschte ihr aus der Hand, fiel krachend auf den Boden und aus ihm eine Reihe loser Blätter, die in Plastikhüllen gesteckt hatten.
»Oh!«, machten Dora und Simone gleichzeitig. Sie bückten sich auch gleichzeitig und stießen mit den Köpfen aneinander. Es hatte kaum wehgetan. Ihre Münder waren sich nahe, sie atmeten hastig und intensiv. Simone roch nach Tomatensuppe, Dora nach der Landleberwurst, die sie heute Morgen zum Frühstück gegessen hatte.
»Okay, also morgen Abend«, flüsterte sie.
Das wahre Leben
Für seine nunmehr siebzig Lebensjahre war Konrad Vulpius noch immer eine stattliche Erscheinung. Einigermaßen schlank und aufrecht, das Haar (bis auf die Geheimratsecken) voll und schlohweiß. Seit seiner Hüftoperation voriges Jahr zog er das rechte Bein ein wenig nach, aber das fiel kaum auf. Vulpius war ein stolzer Mann und hatte allen Grund dazu, nur die ständige Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Er wurde alt. Nein, er war alt.
Die Frau hinter der Fleisch- und Wursttheke strahlte ihn an. Ihr schien es zu gefallen, mit welcher Verlegenheit er »eine kleine Schweinelende bitte« aussprach, Wörter, die sofort das Kopfkino zum Rattern brachten. Schweine – Lende, wie vulgär war das doch, wenn man es außerhalb einer Metzgerei in den Mund nahm.
Er würde Rosenkohl dazu machen, Madeleine liebte Rosenkohl und Konrad aß ihn ihr zuliebe und ohne das Gesicht zu verziehen, obwohl er Kohl generell hasste. Mit einer leichten Sahnesoße, pikant gewürzt, viel Muskat. Ein grüner Salat mit Vinaigrette davor, er konnte sie im Schlaf zusammenmixen.
Heute war Wochenmarkt, Auftrieb der älteren Damen, die mit prallen Einkaufstaschen, aus denen Lauchstangen ragten, in die umliegenden Cafés einfielen, Rentnerinnen, Witwen zumeist, die aus den Fenstern blickten und nach passenden Witwern Ausschau hielten.
Er war kein Witwer und würde, so sein Leben mit Madeleine nach der statistischen Wahrscheinlichkeit verliefe, auch keiner werden. Das machte ihm keine Sorgen, eher der höchstwahrscheinliche Fall, Madeleine allein in dieser Welt zurücklassen zu müssen. Eine verwitwete Frau mit Anfang, Mitte fünfzig. Gut, sie hatte ihre Arbeit. Und Vulpius konnte sich Madeleine nicht mit einem anderen Mann vorstellen, schon gar nicht im Bett, schon gar nicht in gewisse gymnastische Übungen verstrickt. Warum betrog sie ihn eigentlich nicht? Er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, solange Madeleine einem deutlich jüngeren Mann als er einer war ihre Gunst schenken würde. Einem Testosteronhengst, gerne auch Student oder wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein Mann, dessen Dienste hormonregulierend wirkten, also eigentlich wie eine Tablette, die man dreimal täglich mit etwas Wasser hinunterspült.
Doch in dieser Beziehung war Madeleine seltsam, schon immer gewesen. Sie machte sich nicht viel aus Sex. Sex war für sie ein Luxusgut, schön, wenn man eins besaß, aber kein Lebensmittel, nicht unverzichtbar für den alltäglichen Bedarf. Eine Schweinelende eben, kein Kaffee, ohne den Madeleine morgens nicht die Gänge kam.
Viertel nach zwölf. Vulpius saß im Café und aß ein Stück Apfelkuchen, er hatte nach Hause gehen wollen, aber die Müdigkeit war schneller gewesen. Außerdem musste er nachdenken. Der Anruf vorhin... Madeleine, die ihm mitteilte, es könne heute Abend später werden, sehr spät, sie wisse es noch nicht, ein paar Komplikationen bei der Arbeit. Das war nichts Neues, aber ihre Stimme hatte ihn irritiert. Sie zitterte. Sie war viel zu hoch. Sie hörte sich – gehetzt an, sogar etwas schuldbewusst. Oder täuschte er sich? Wenn nicht, konnte das nur bedeuten: Madeleine hatte ein heimliches Rendezvous. Sie würde ihn betrügen.
Nein, nein, es störte ihn nicht. Hormonhaushalt, dachte er, das ist völlig normal. Schön, wenn sie endlich... Nein, Unsinn. Es störte ihn. Nicht wegen Madeleines offensichtlicher Lüge, das verstand er gut. Sie schämte sich. Eines Tages würde sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher