Die Vermessung der Lust (German Edition)
die Wahrheit sagen.
Es war etwas anderes, es hatte mit ihm zu tun. Hier, inmitten gleichaltriger Frauen, die ihm gelegentlich zunickten und mit Blicken bedachten, befand er sich auf dem ihm zustehenden Terrain. Er wollte es nicht Altersheim nennen, aber im Grunde war es genau das. Ein Ort, an dem man sich fand, um eine Vernunftbeziehung einzugehen. Eine späte Heirat schädigt die Rentenkasse, man kann Kosten teilen, sogar den Rollator, wenn man sich keine zwei leisten kann. Man nimmt gemeinsam an Kaffeefahrten teil und ist nicht mehr das einsame Herz, das immer allein im Bus sitzt und abends mit einer überteuerten Heizdecke nach Hause kommt, weil der Verkäufer so nett war und der einzige, der mit einem geredet hat. Man schaut zu, wenn sich der Partner oder die Partnerin bettfertig macht und sieht sich selbst: einen mehr oder weniger im Verfall befindlichen Körper. Man küsst sich auf die Wange und auf den Mund nur noch dann, wenn man die Zähne nicht schon im Glas liegen und auf dem Nachttisch stehen hat.
Das war seine, Konrads Welt. Während seine Frau, so viel jünger, so viel aktiver, so viel begehrenswerter, heute Abend in den Armen eines jüngeren, auf jeden Fall attraktiveren Mannes liegen und zu einem Orgasmus kommen würde. Er gönnte es ihr von ganzem Herzen. Bei ihm hatte sie meistens nur simuliert, sie war eine miserable Schauspielerin.
Konrad Vulpius ließ die Hälfte des Apfelkuchens stehen, zahlte, nahm sein Einkaufsnetz und ging. Er würde trotzdem kochen. Vielleicht hatte sie Hunger, wenn sie heimkam. Konnte man ja alles wieder aufwärmen.
*
Lars verstand die Frauen nicht. Okay, wahrscheinlich konnte kein Mann von sich behaupten, die Frauen zu verstehen, aber Lars verstand sie gerade kein bisschen. Dora. Was sollte das? Sie schien den ganzen Nachmittag völlig durch den Wind zu sein, verwechselte Statistiken, machte Anfängerfehler, warf Ordner aus dem Regal, killte den Kopierer. Und machte ihm unverfroren den Hof. Ja, so musste man das nennen. Sie hatte ihn angebaggert.
Nichts Neues für Lars, er wurde ständig angebaggert. Aber doch nicht von Dora. Wenn eine Frau kurz auf die Toilette geht, ihre Handtasche mitnimmt – okay, nichts Besonderes. Wenn sie dann aber zurückkommt und erkennbar keinen BH mehr unter dem Shirt anhat, sondern wahrscheinlich in der Handtasche, dann nannte Lars das Anbaggern. Und wenn dann auch noch die Nippel wie Klingelknöpfe aussehen... und Dora bei jeder Gelegenheit kichert und ihn anschaut, so taxierend, so herausfordernd... das war Anbaggern in seiner direktesten Form, richtig ordinär.
Nicht dass er sich nicht hätte vorstellen können, es ihr einmal zu besorgen. Seinetwegen auch im Büro, Tür abschließen, eine schnelle Nummer im Stehen, Dora mit ihrem Po auf dem Schreibtisch, er mit heruntergelassener Hose davor, das war wie jemandem einen Kaffee aus der Kantine mitbringen, die Schuppen vom Jackett bürsten. Aber dann sollte sie es ihm einfach sagen ! Er war doch nicht verklemmt! Aber sie anscheinend.
Halb vier. Jetzt lehnte sie sich zurück und öffnete den Knopf ihrer Jeans. »Puh! Ich hab heut mittag zu viel gegessen! Ich sollte mal einen Diättag einlegen, lach.« Sie sagte tatsächlich »lach«, als wäre das hier ein Pubertierendenchat. Und dann schob sie ihr Shirt hoch, hing dabei wie ein Schluck Wasser im Stuhl, streichelte sich über den Bauch und fragte: »Oder was meinst du? Zu fett, oder?«
Genau in diesem Moment bekam er eine schwere Erektion. Mein Gott, wie er das hasste! Er musste an etwas anderes denken, unverzüglich. Er dachte an das Mensaessen, Möhrenpampe mit gebratener Blutwurst, aber selbst diese Schocktherapie half diesmal nicht, die Erektion blieb. Dora hatte ihr Shirt inzwischen noch höher geschoben, wenn das so weiterging, würde er gleich in den Genuss des Anblicks ihrer Brüste kommen. Nein, er musste handeln.
Er stand auf. Sie schaute ihn an, wie üblich zuerst ins Gesicht, dann auf die Schultern, den Bauch, den Unterleib, wo sich die Erektion nicht verbergen ließ. Sie erbleichte und schluckte. War ihm jetzt egal, selber schuld. Er ging zur Tür und schloss sie ab. Ging zurück, bückte sich zu seiner Aktentasche, öffnete sie, suchte blind und fand, was er suchte. Ein Präservativ. Er riss die Verpackung auf, nahm das Gummi heraus und warf es vor Dora auf den Schreibtisch.
»Aber nur einmal, ausnahmsweise, okay?«
Sie starrte ihn an und nickte dann. Er knöpfte seine Hose auf, räumte einige Akten beiseite, damit
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