Die verratene Nacht
hatte, um sie weiterzureichen, sah er, dass Selena von ihrem Posten auf dem Hügel verschwunden war. Und dass die Sonne schon zur Hälfte untergangen war. Er verspürte mehr als nur ein bisschen scharfes Bedauern, dass er heute Abend nicht mehr nach Blizek Beach zurückkommen würde; er hatte sich ausgemalt die ganze Nacht in den Arkaden zu verbringen und Bruce Wayne zu spielen.
Aber es könnte andere Vorteile mit sich bringen hier heute Abend in Yellow Mountain abzuhängen. Ein rascher Blick über den improvisierten Zuschauerraum verriet ihm, dass Selena auch von dort verschwunden war und sein Interesse war wieder geweckt.
Wieder draußen, um Zombies zu jagen? Hatte sich in die anbrechende Nacht weggeschlichen, während alle anderen beschäftigt waren? Clevere Frau. Verrückte, clevere Frau.
Während ein Teil von ihm die Aufregung und den Kick verstehen konnte, wenn man gefährliche Dinge tat, wusste der größere Teil, dass sie verrückt sein musste.
Theo befreite sich aus Jens Umklammerung und stand auf.
Als die junge Frau zu ihm hochschaute und Anstalten machte aufzustehen, machte er ein kleines Bleib-sitzen -Handzeichen zu ihr. „Bin gleich wieder da“, sagte er und lehnte sich dabei flüsternd hinab, um die Geschichte nicht zu unterbrechen.
Vonnies Stimme folgte ihm, als er davonging. „Die Prinzessin lief an den leuchtend angemalten kleinen Häusern vorbei, wo die berühmten Mäuse wohnten, und kam schon bald zu einem anderen Teil des Landes. Es wurde das Magische Königreich genannt. Und dort würde sie auf einem fliegenden Elefanten reiten. Und sie würde eine andere Prinzessin treffen – eine Meerjungfrau mit rotem Haar.“
Theo hielt an, um über seine Schulter nach hinten zu schauen, und jetzt zeichnete sich auch auf seinem Gesicht ein Verstehen ab. Deswegen kam ihm die Geschichte so bekannt vor. Die Prinzessin besuchte Disney World.
Während die Geschichte weiterging, bahnte Theo sich vorsichtig seinen Weg durch die sitzenden Leute hindurch. Es erinnerte ihn an die Open Air Rockkonzerte, wo er hingegangen war, als er kein armer Student mehr gewesen war, wo die Hälfte vom Publikum sich auf den Grashügeln jenseits der Bühne und im weiten Zuschauerraum niedergelassen hatte. Man hatte Decken ausgebreitet und trank Bier und der süße Duft von Hasch würde sich in der Sommerbrise um Coldplay oder Kings of Leon kräuseln.
Er suchte mit den Augen den Rand der Menge ab, suchte nach einer aufrecht stehenden Silhouette, die sich unauffällig in die zunehmende Dunkelheit hinausschlich. Die Ansammlung von kleinen Häusern um den McDonalds – manche von ihnen waren früher Camping-Wagen gewesen oder eine Tankstelle, und ein paar schien man aus Gebäudeüberresten zusammengebaut zu haben – war umgeben von einem Wall aus alten Autos, Werbetafeln oder Teilen von Dächern und anderen, großen Überresten der Verwüstung.
Theo konzentrierte sich auf den Wall, suchte nach der verrückten Frau, der Todeslady, die anscheinend gerade versuchte sich umbringen zu lassen, indem sie die Sicherheit hier verließ, wenn der Tag endete. Die Ganga würden jetzt schon unterwegs sein, mit ihren glühenden, orangenen Augen und mörderischen Krallen, sobald die Sonne schlief.
Vonnies Geschichte war von der Ferne verschluckt worden und von dem Rascheln einer Brise in den Bäumen und Büschen, sodass sie nur noch wenig mehr war als ein aufsteigendes und absteigendes Gemurmel.
Wenn er an die Monster jenseits des Walls dachte, die nur darauf warteten, dass jemand wie Selena ihnen in die Arme lief, wünschte er sich, dass er die Bauteile für eine Flaschenbombe mitgebracht hätte. Aber der Rucksack, den er aus Envy mitgebracht hatte, war schon längst weg und er hatte weder die Zeit noch die Ressourcen gehabt, daran zu denken, ihn zu ersetzen.
Idiot.
Theo ging etwas schneller, weil er eine ungewohnte Dringlichkeit verspürte, die er nicht verstand. Wohin war sie verschwunden?
„Schon wieder auf der Suche nach dem Klo?“
Er hielt an und wirbelte förmlich herum. „Selena“, sagte er. Ihr Haar leuchtete auf, dunkel und dicht und verheißungsvoll. Er fragte sich, ob es so weich war, wie es aussah. Er fragte sich, wenn sie schlief, nachdem sie die ganze Nacht auf gewesen war und den ganzen Tag mit ihren Patienten verbracht hatte, wie es da ... und wie sie aussehen würde, noch schlaftrunken und zerzaust.
„Es ist dort drüben“, sagte sie und zeigte ... in die Richtung, aus der sie selbst gekommen zu sein schien.
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