Die Verratenen
aber ich kann Aureljo hinter mir atmen hören, höchstens fünf Schritte entfernt. Mein eigener Atem formt dichte weiße Wolken vor meinem Mund und auf einmal herrscht in mir die Ruhe von Schnee und Stein. Es ist so weit. Kein Warten und Bangen mehr.
Der Größere kommt langsam näher. Er weiß nicht, was er von mir halten soll. Alles kostbare Sekunden, hoffentlich finden Tycho und die anderen schnell ein Versteck. Aber sie werden Spuren im Schnee hinterlassen. Unsere einzige Hoffnung ist die hereinbrechende Nacht. Ich spiele also auf Zeit.
Der Sentinel macht einen weiteren Schritt auf mich zu. »Hast du Sprengstoff am Körper?«, brüllt er.
Aha, daher also ihre Unsicherheit. Ich überlege blitzschnell. Sage ich Ja, werden sie zuerst Aureljo erledigen und sich anschließend mir und der Entschärfung des vermeintlichen Sprengsatzes in Ruhe widmen.
Ich lächle den Mann an. Mein Salvator vibriert nicht einmal, meine Gelassenheit ist echt. »Nein«, antworte ich. »Aber etwas anderes.«
Weder er noch sein Kamerad rühren sich, aber die Waffe mit dem vorne angebrachten Bogen zielt genau auf mich, ein Bolzen liegt vor der gespannten Sehne. Diese Waffe ist im Moment am gefährlichsten für mich. Ich sehe ihrem Besitzer genau in die Augen, deute ein Lächeln an. Wenn er beschließt, keine weitere Zeit verschwenden zu wollen, steckt der Holzpflock in meiner Brust.
Doch er schnappt nach meinem Köder »Du hast etwas anderes? Was ist es?«
»Eine Begnadigung.« Ich weiß, ich pokere hoch. Der Plan, den ich mir innerhalb von Sekunden zurechtgelegt habe, funktioniert nur, wenn meine Vermutung stimmt – dass die zwei Sentinel, die uns verfolgen, lediglich Befehle ausführen. Sie sollen uns umbringen, aber sie haben keine Ahnung, warum. Sollte das nicht zutreffen, bin ich tot. Nicht mehr lange, dann werde ich es wissen.
»Eine Begnadigung? Warum solltest du deine eigene Begnadigung dabeihaben?«
»Nicht meine. Eure.« Ich lasse den Schützen nicht aus den Augen, während ich mit dem Kopf hinter mich deute, dahin, wo ich Aureljo vermute. »Glaubt ihr, dass ihr ohne Strafe davonkommt, wenn ihr den zukünftigen Präsidenten erschießt?«
Sie wechseln Blicke. Ich darf sie nicht zu lange nachdenken lassen.
»Aureljo, die Nummer 1 in der Reihung der Borwin-Akademie. Wir sind auf dem Weg zum Präsidenten, damit sie einander kennenlernen können.« Ich schlage einen Ton an, der irgendwo zwischen genervt und dringlich liegt. »Was aber niemand weiß, auch euer Vorgesetzter nicht: Aureljo trägt die Gene des Präsidenten in sich. Er ist Vitro Klasse 1a, ihr wisst, was das bedeutet.«
Was ich sage, ist eine glatte Lüge, aber wenn sie auch nur in Betracht ziehen, mir zu glauben, werden sie es nicht riskieren, Aureljo zu töten.
»Wir sind nicht das erste Mal in einer solchen Situation«, spreche ich langsam weiter. »Die Feinde des Systems versuchen immer wieder, ihn umzubringen, aber heute –«
Etwas knackt, aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung im Schnee. Mein Magen krampft sich zusammen. Ihr Befehlshaber? Nein. Kleiner, schneller. Wahrscheinlich ein Tier.
»Heute schaffen sie es vermutlich«, vollende ich meinen Satz. Leise, traurig.
Die Sentinel wechseln diesmal keine Blicke, ich kann sehen, wie meine Worte in ihnen arbeiten.
»Wir sind keine Feinde des Systems. Wir dienen der Regierung«, sagt der mit dem Bolzenschussgerät.
Ich behalte meinen traurigen Gesichtsausdruck bei, lege ein ebenso trauriges Lächeln darunter, nicht zu viel, um nicht ins Überhebliche abzugleiten. »Ich glaube euch, dass ihr das denkt.«
Endlich. Es ist nur ein kleines Stück, aber die Waffe mit dem Bolzen senkt sich.
»Schützt ihn!« Ton ändern, nur noch flüstern, aber ein verzweifeltes Drängen hineinlegen. »Beweist, dass ihr auf der richtigen Seite steht, und schützt den künftigen Präsidenten der Sphären!«
Wenn sie bisher etwas davon abgehalten hat, mich zu erschießen, dann die Tatsache, dass ich nicht von mir gesprochen habe. Dass ich sie als Gefahr für mich selbst ignoriere. Das kann jede Sekunde vorbei sein.
Ich höre Graukos Worte in meinem Kopf: Unsere wichtigste Lektion war die letzte. Entscheidungen, die man nicht mehr zurücknehmen kann.
»Einen abgeschossenen Pfeil kann man nicht mehr zurückholen«, sage ich. »Wenn er in der Brust des Präsidentensohns steckt, dann ist das endgültig.« Ihr wurdet hereingelegt, missbraucht, lautet die Botschaft hinter meinen Worten. Andere werden von eurer Tat profitieren,
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