Die Verschollenen
plötzlich kalt. Zitternd hob sie die Finger an die Kehle. Sie war nass und warm. Roberta riss entsetzt die Augen auf. Das Ding glitzerte. Ein Taschenmesser. Sie fragte sich, ob das sein Luxusgegenstand war. Dann wurde ihr bewusst, was gerade passiert war. Der Schmerz setzte ein. Ihr Hals brannte. Matthews Lächeln erlosch nicht. Er stach auf sie ein und rammte ihr das Messer in den Bauch, dann in die Seite, direkt oberhalb der linken Niere. Dann knapp unter der linken Brust. Als er versuchte, das Taschenmesser rauszuziehen, blieb die Klinge stecken. Er grunzte überrascht.
»Muss einen Knochen getroffen haben.«
Roberta versuchte zu sprechen, schaffte aber nur ein Keuchen. Sie umklammerte mit einer Hand ihre Kehle und wirbelte herum, um zu fliehen. Matthew versetzte ihr von hinten einen Stoß. Sie landete im Matsch, versuchte aber sofort, von ihm wegzukriechen, und rutschte durch den Dreck.
»Ich habe keine Ahnung, was du da laberst«, sagte Matthew und schaute auf sie runter, »aber wenn es
einen Unfall gegeben hat und Shonette und die anderen verletzt sind, macht das die Sache einfacher. Das gibt mir eine Rechtfertigung. Ich meine, das muss doch ein Zeichen sein, oder? Dafür, dass irgendwer da oben auf mein Werk herabschaut und es gutheißt, oder?«
Roberta war auf einmal unglaublich schläfrig. Die Luft um sie herum wurde kälter, obwohl sie weder Regen noch Wind spürte. Zitternd rollte sie sich auf den Bauch und schloss die Augen.
Das Letzte, was sie spürte, war Matthews Fuß auf ihrem Hinterkopf, der ihr Gesicht tiefer in den Schlamm drückte. Der Druck wurde immer stärker. Roberta kämpfte darum, Luft zu holen - und schaffte es nicht.
Der Wind heulte.
Tief im Dschungel antwortete ihm etwas.
DREIZEHN
A ls Shonette wieder zu Bewusstsein kam, war sie enttäuscht. Sie hatte von ihren Kindern geträumt, Monika und Darnell. Sie hatten zu dritt an dem winzigen Esstisch in der Kitchenette in ihrer Wohnung gesessen. Im Radio lief ein Lied von Alicia Keys, und der Fernseher plärrte im Hintergrund. Der Wetteransager versprach Sonne pur. Dann hatte Shonette sich für die Arbeit umgezogen und ihre Kinder ermahnt, sich zu beeilen, da sie sonst zu spät zur Schule kämen. Monika und Darnell hatten sich darüber beschwert, dass sie Müsli gekauft hatte und keine Fred-Feuerstein-Cornflakes. Und sie hatte erwidert, dass sie für den Rest ihres Lebens jeden Tag Fred-Feuerstein-Cornflakes essen könnten, wenn sie erstmal die Million bei Castaways gewonnen hatte. Wenn sie gewann, würde es keine Billigprodukte, Doppelschichten und Rabattmarken mehr geben. Die Kinder hatten gejubelt. Dann hatten sie sie umarmt und waren zur Schule gegangen. Im Traum hatten sie sich weich und warm angefühlt, und sie konnte ihren vertrauten Duft riechen. Sie hatte geseufzt und sich getröstet und stark gefühlt.
Es war ein guter Traum gewesen.
Voller Sicherheit.
Sie bewegte sich langsam, öffnete die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war. Regen tropfte in ihre Augen, und ihre Gliedmaßen waren taub. Sie blinzelte und schaute sich verwirrt um. Die Welt war kalt und dunkel - und stand auf dem Kopf. Blitze und wabernde schwarze Wolken rasten über den Boden, Schlamm und Baumwurzeln bedeckten den Himmel. Sie spürte, dass sie in Bewegung war, aber ihre Beine schienen nicht zu funktionieren. Irgendwas hatte ihre Fußgelenke gepackt und hielt ihre Füße und Beine umklammert. Doch bevor sie reagieren konnte, wurde sie unsanft durchgeschüttelt, und ihr Kopf schlug gegen etwas Nasses, Pelziges. Sie versuchte zu schreien, und dann drang der Gestank in ihre Nase - ein säuerlicher, muffiger Geruch, wie mariniertes Aas. Würgend wandte sie den Kopf ab.
Ein Knurren drang durch die Dunkelheit.
Shonette drehte sich der Magen um. Ihr wurde klar, dass irgendjemand - oder irgend etwas - sich ihren Körper über die haarige Schulter gewuchtet hatte und sie durch den Dschungel getragen wurde. Sie begann zu zappeln, und sofort knurrte ihr Entführer erneut - tief und kehlig. Scharfe Krallen gruben sich in ihr Bein.
Dann kehrten die Erinnerungen zurück, und Shonette begann zu schreien.
Sie erinnerte sich an die zerfetzten Fleischstücke, die einmal Richard gewesen waren, und an die zerrissenen, blutigen Überreste seiner Shorts. Sie erinnerte sich daran, wie eine Bande von Monstern aus dem Dschungel gestürmt war und sie umzingelt hatte. Kreischend und knurrend hatten sie angegriffen, mit scharfen Krallen und heftigen
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