Die Verschworenen

ich still.
    Das Badezimmer ist klein und mein Weg nicht weit. Dummerweise wirft mein eigener Körper einen Schatten, der die Papiere bedeckt, ich muss mich seitlich drehen und stoße dabei leicht gegen die Duschkabine. Es gibt ein leises, schabendes Geräusch.
    Ich erstarre. Hat Behrsen das gehört?
    Nein, er atmet unverändert weiter. Nur seinen Kopf dreht er zur anderen Seite, also von mir fort.
    Gut, sehr gut. Doch jetzt kommt der schwierige Teil – Rascheln ist eins der Geräusche, die schnell und tief durch die Bewusstseinsschichten dringen können. Am liebsten würde ich den kleinen Aktenhaufen ins Krankenzimmer mitnehmen, aber dabei dürfte ich keinesfalls ertappt werden. Sollte ich Behrsen aus Versehen hier wecken, könnte ich mich herausreden, dessen bin ich mir sicher.
    Zuoberst liegt Behrsens Tagesbefehl. Eine Auflistung der Dinge, die er zu erledigen hat. Unter anderen Umständen vielleicht interessant, jetzt nebensächlich. Es erstaunt mich höchstens etwas, dass diese Kommunikation nicht über die Terminals läuft, aber dafür wird es Gründe geben. Dass es zum Beispiel eine offizielle, elektronische Version für die weit entfernt stationierten Vorgesetzten gibt und eine inoffizielle, auf die die drei Kontrolleure sich intern geeinigt haben. Aber das ist nicht mein Problem.
    Mit aller Behutsamkeit hebe ich das Blatt an und lege es zur Seite. Darunter kommt eine Mappe zum Vorschein, auf die ich große Hoffnung gesetzt hatte, doch sie trägt die Aufschrift Skizzen und den Zusatz privat . Dass Behrsen ein Hobbyzeichner ist, hätte ich nicht vermutet, und obwohl ich es sympathisch finde, bringt es mich nicht weiter.
    Als ich die Mappe hochhebe, raschelt es leise, aber Behrsen wacht nicht auf.
    Darunter wieder ein Einzelblatt. Ich überfliege die kurzen Zeilen und mein Herz pumpt schneller.
    Es handelt sich um eine Auflistung von Sphären – weder vollständig noch alphabetisch geordnet. Offenbar muss noch vieles ergänzt werden.
S BSW
I/3: 17/19/19
S GRA
I/0
S B1
I/1: 18
S B3
I/2: 15/19
S HAN1
I/0
S KON
I/1: 13
S DO2
I/1: 17
    So geht es weiter. Sphärenbezeichnungen, Buchstaben und Zahlen, aus denen ich nicht schlau werde. Ich würde das Blatt am liebsten abschreiben und später in Ruhe darüber nachdenken, welche Information hinter den Daten steckt, aber das ist ausgeschlossen. Leider werde ich mir auch nicht alles merken können, dafür ist es zu viel.
    Ich präge mir ein, was möglich ist, und widme mich dem nächsten Bogen.
    Und da, da ist es. Es ist kein Dokument im engeren Sinn, sondern nur ein paar Sätze, die Behrsen auf die Rückseite eines alten Tagesbefehls gekritzelt hat, wobei ich bezweifle, dass seine Vorgesetzten glücklich darüber wären, wenn sie davon wüssten. Er tut, was auch ich früher gern getan habe: mit einem Stift in der Hand nachdenken und sich Notizen machen.
    Was genau hinter seinen Zeilen steckt, begreife ich nicht, aber es ist auf jeden Fall schwerwiegend.
    S NMN: Nach bekanntem Zwischenfall keine Überlebenden. TO: 2 827   –   2 903, Bahnverbindung bis auf Weiteres gesperrt. Ab wann Zugang?
    Offiziell: Vereisung Magnetbahn. Andere Verkehrsmittel?
    M. sucht Kräfte für Spezialeinsatz. Freiwillige Meldung – Beförderung?
    Nach bekanntem Zwischenfall keine Überlebenden. Heißt das, die ganze Sphäre Neumünster ist ausgelöscht?
    Sollte TO das Kürzel für Todesopfer sein, dann handelt es sich hierbei nicht um einen Zwischenfall, sondern um eine Katastrophe. Ich habe Berichte über einen Kuppeleinsturz gelesen, der vor dreißig Jahren in einer der Spessart-Sphären passiert ist; damals gab es über zweihundert Tote. Aber dreitausend?
    Die Meldung müsste wie ein Lauffeuer durch sämtliche Nachrichtenkanäle gegangen sein. Ich hätte sie entdecken müssen, kürzlich, als ich auf Albinas Terminal herumgestöbert habe. Sie hätte Thema Nummer eins in allen Gesprächen sein müssen.
    Aber nichts davon ist passiert. Fast dreitausend Tote, die … ja, totgeschwiegen werden.
    Außer, TO bedeutet etwas ganz anderes. Mir fällt bestimmt eine plausiblere Erklärung ein, wenn ich meinen Kopf wieder klar bekomme.
    Ein Stöhnen, rau, ein Knarren. So viel früher, als ich vermutet habe.
    Jetzt nicht panisch werden. Schnell das Papier zurücklegen – Behrsen schläft noch, ein Glück –, die anderen Dokumente darüberstapeln, so wie ich sie vorgefunden habe. Leise. Langsam atmen. Langsam aufstehen.
    Drei Schritte zur Tür, rückwärts, den Blick immer auf die Liege