Die Verschworenen
dem ihr wohnt«, sagt er, während wir langsam den Weg zurück antreten, »ist uralt, hat Quirin euch das erzählt?«
»Alles hier ist uralt.«
Er lacht. »Ich meine, älter als das meiste andere, was du in deinem Leben sehen wirst. Es stammt aus der Zeit, als die Römer die Stadt gegründet haben, vor weit über 2 000 Jahren. Und es ist nie eingestürzt.«
Ich versuche, mir eine solche Zeitspanne vorzustellen. Wie viele Leben in so vielen Jahren begonnen haben und vergangen sind. Jeder einzelne Mensch ein ganzes Universum aus Gedanken und Gefühlen, aus Liebe und Hass, Mut und Angst.
»Vor der Langen Nacht war über dem Gewölbe ein Haus, in dem man Dinge erwerben konnte«, fährt Sandor fort. »Wein vor allem, und Tee, das war ein warmes Getränk aus getrockneten Blättern.«
Ich kenne Tee aus den Sphären, aber ich weiß nicht, ob er aus Blättern gemacht wurde. Nur, dass er bitter war und man ihn mit Kunsthonig versetzen musste, damit er seine tröstende Wirkung entfalten konnte.
»Woher weißt du das alles?«
»Quirin ist ein guter Geschichtenerzähler. Er hat mehr gelesen als jeder andere von uns.«
Ich frage mich, wie viele aus dem Clan überhaupt lesen können. Sandor hat es offensichtlich gelernt, Fiore und Bojan natürlich auch. Aber Andris? Yann? Ich kann sie mir nicht mit einem Buch in der Hand vorstellen.
Als ich unser Gewölbe wieder betrete, tue ich es mit einem anderen Gefühl als bisher. Dass dieser Raum so alt ist, gibt mir Mut. Etwas überdauert immer, egal, was passiert.
5
Drei weitere lange Tage in der Bibliothek. Jeden Abend tränen meine Augen vor Anstrengung und irgendwann auch vor Frustration. Mein Zufallsfund wiederholt sich nicht, es taucht kein weiterer Zipfel einer Chronikseite auf, sosehr ich mich auch bemühe. Dafür wächst der Stapel an altem Wissen, den Quirin sich wünscht. In den Jahren vor der Langen Nacht war die Technik hoch entwickelt, so wie sie es in den Sphären heute noch ist, doch hier draußen können wir mit Büchern über Informatik in der Medizintechnik oder Elektronik in der Landwirtschaft nichts anfangen. Dagegen sind Werke wie Bodennutzung und Ernte sehr hilfreich.
Am vierten Tag fällt mir ein Buch über Infektionen in die Hand und ich lese mich fest. Tommas Zustand ist unverändert und ich würde zu gerne ein Mittel finden, das ihr hilft und das wir zu beschaffen imstande sind. Doch überall ist nur die Rede von Antibiotika.
»Wir haben einen riesigen Schritt vorwärts gemacht«, verkündet Aureljo am gleichen Abend, als wir alle wieder im Gewölbe versammelt sind. Fiore hat uns Essen gebracht und ist geblieben. Jetzt kniet sie neben Tomma und kühlt ihre Stirn mit einem nassen, kalten Lappen, den sie alle paar Minuten in eine Schüssel mit Wasser taucht und auswringt.
Aureljos Ankündigung lässt Tycho und mich einen alarmierten Blick wechseln. Wir beide hoffen, dass die Arbeit an dem verrückten Plan, sich in Vienna 2 einzuschleichen, möglichst langsam vorangeht, aber wie es aussieht, ist das Gegenteil der Fall.
»Ich habe mit einem Grenzgänger gesprochen«, erklärt Aureljo, »mit einem, dem Quirin wenigstens einigermaßen vertraut. Ich habe mich als Clanmitglied ausgegeben und behauptet, ich würde gern für einige Zeit in Vienna 2 leben. Daraufhin hat der Mann mir alles erzählt, was er über die Sphäre weiß.« Aureljo sieht mich an, die Begeisterung in seinen Augen könnte ansteckend sein, wenn die Idee dahinter nicht so selbstmörderisch wäre. »Wir haben wirklich Glück. Vienna 2 ist ideal für unsere Zwecke. Nicht sehr groß und eine von den Sphären, die eher nachlässig geführt werden. Man nimmt die Sicherheitsbestimmungen nicht so ernst wie beispielsweise in Vienna 1. Es gibt keine wichtigen Einrichtungen, die scharf bewacht werden müssen, und der Kontakt zu den Außenbewohnern ist relativ freundlich. Es ist eine unauffällige Sphäre, in der Menschen ohne großen beruflichen Ehrgeiz leben. Wenn wir erst einmal drin sind –«
»Wenn«, unterbreche ich ihn. »Das Wort kommt in deinem Plan recht häufig vor, nicht?« Ich brauche meine ganze antrainierte Technik, um einen ruhigen und beherrschten Ton beizubehalten. »Selbst wenn du an den Sentineln bei der Schleuse vorbeikommst, obwohl mir schleierhaft ist, wie das ohne einen Salvator oder Chip möglich sein soll, kann es passieren, dass irgendjemand sich daran erinnert, dein Gesicht schon einmal in einer Nachrichtenmeldung auf seinem Datenterminal gesehen zu haben.
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