Die Verschworenen
mit der Hand, um nicht geblendet zu werden. Seine eigene Lichtquelle ist eine Art Laterne, die viel schwächer brennt als unsere.
»Wir waren an Tommas Grab.« In meinem Ärmel spüre ich die Chronik-Seite. Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um mit Quirin über Jordan zu sprechen. Dann sehe ich die tiefen Furchen auf seiner Stirn und um seine Mundwinkel, die Blässe seiner Haut. Er wirkt, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.
»An Tommas Grab. Verstehe. Wenn ihr den Weg zurück sucht, seid ihr hier aber falsch.«
»Wir wollten uns einen Überblick verschaffen«, erklärt Tycho.
Quirin wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Lasst uns zurückgehen. Dort hinten gibt es zwar noch weitere Räume, aber die meisten sind verschüttet und einer der Gänge ist einsturzgefährdet. Haltet euch davon bitte fern. Es reicht, dass wir Tomma hier bestatten mussten.«
Die Ermahnung richtet sich vor allem an Tycho, der gehorsam nickt.
»Wie geht es Vilem?« Auf dem Rückweg hält Quirin sich neben mir, die Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren, ist günstig.
»Er hat Fieber. Ich habe die ganze letzte Nacht versucht, es zu senken, wir haben ihn in Schnee gepackt und ihm Wasser eingeflößt …« Ratloses Schulterzucken. »Heute Morgen war es ein bisschen gesunken. Denke ich. Wir haben keine Thermometer, um es genau zu messen.«
In den Sphären zeigten die Salvatoren auf Knopfdruck die Körpertemperatur an, innerhalb einer Fünftelsekunde. Ich frage mich, ob Tycho imstande wäre, eins der Geräte so weit zu reparieren, dass wenigstens die Basisfunktionen wieder laufen. Wenn wir ein paar verlässliche Angaben zu Vilems Zustand hätten, dann …
Ja, was dann? Dann wären wir schlauer, aber niemand könnte die nötigen Medikamente herbeizaubern oder eine Operation auf Sphärenstandard durchführen.
Frustriert verschränke ich die Arme vor der Brust. »Gibt es andere Neuigkeiten? Nichts zu erfahren und gleichzeitig so viel Zeit zum Nachdenken zu haben, ist schlimm.«
Ein mitfühlender Blick. »Das kann ich mir denken. Es sieht im Moment ganz gut aus. Heute gab es noch keinen Überfall, alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Nachtläufer sich zurückgezogen haben. Mit den Scharten kommen wir zurecht, die sind wir gewohnt.«
»Gut.« Mir wird innerlich warm. Dann könnte Sandor sich bald wieder blicken lassen. Vielleicht schon morgen, zu seiner üblichen Zeit, vor Sonnenaufgang. Und ich könnte meinen Beitrag dazu leisten, dass er noch ein wenig länger Than bleiben kann.
»Falls du bei Vilems Versorgung Hilfe brauchst: Ich bin geübt in Krankenpflege. Früher habe ich oft freiwillig im Medcenter ausgeholfen.«
Wir durchqueren die Gruft, in der Tomma liegt. Quirins Blick bleibt ebenso an ihrem Sarg heften wie meiner.
»Wir haben Vilem in eine kleinere Kammer gelegt, wo er mehr Ruhe hat«, sagt er nachdenklich. »Ich vermute, wir könnten es riskieren, dass du dich dort um ihn kümmerst, es wird dich niemand sehen.« Er legt seine Hand auf meine Schulter. »Wenn du das möchtest. Ich würde es nie von dir verlangen.«
Da schwingt Traurigkeit in seinen Worten mit, ganz ohne Frage. Steht es doch schlimmer um Vilem, als Quirin es mir gegenüber zugeben will? Aber warum meint er, mich schonen zu müssen?
»Gerne. Bojan soll mich holen, wenn ihr mich braucht.«
Wir sind in der letzten Halle der Katakomben angelangt, von hier zweigt der Gang zu dem niedrigen Mauerdurchbruch ab, der zu den Tunneln und Kanälen führt. Tycho ist schon vorausgelaufen, ich kann in einiger Entfernung das tanzende Licht meiner Lampe sehen und vermerke innerlich, dass ich nicht vergessen darf, sie von ihm zurückzufordern.
Quirin will offenbar den Weg in die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Er nickt mir zu. »Bis morgen.«
»Ja.« Ich sehe ihn davongehen, eine weiße Gestalt, umgeben vom Lichtschein ihrer Laterne, und der Entschluss, ihm nachzulaufen, formt sich wie ganz von selbst in meinem Kopf.
Er hört meine Schritte und wendet sich um. »Ist noch etwas?«
Es hat keinen Sinn, die Frage betont harmlos zu stellen, so als hätte sie keine große Bedeutung für mich. Quirin ist nicht dumm.
»Ist dir Jordans Chronik ein Begriff?«
Er regt sich nicht. Blinzelt nicht einmal, sondern steht einfach nur da und sieht mich an. Es dauert erstaunlich lange, bis er antwortet. »Ja. Jordans Chronik ist ein Buch, das es nicht mehr gibt.«
Also weiß er, dass es zerstört wurde. Weiß er auch, von wem? Bevor ich weiterfragen
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