Die verschwundene Frau
hatte. Es ist ein Fehler, etwas aus jemandem herausbekommen zu wollen, wenn man wütend ist. Aber wenigstens galt das an jenem Morgen auch für Murray.
Mein Wagen stand noch in der kleinen Straße - eines der wenigen positiven Erlebnisse an diesem unangenehmen Tag.
Eine gutgemeinte Warnung
Ich erklärte einer Aushilfe von einer Agentur gerade, wie sie Rechnungen und Berichte ordnen musste, als der Anruf kam. »Ein R-Gespräch für V. I. Wachewski von Veronica Fassler«, sagte die Frau von der Vermittlung.
Ich dachte einen Augenblick lang nach, verband aber nichts mit dem Namen. »Tut mir leid. Ich glaube, das ist ein Irrtum.«
»Sagen Sie ihr, ich war in Coolis; sie hat mich im Krankenhaus kennengelernt«, sagte eine Stimme am anderen Ende hastig, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.
Veronica Fassler. Die Frau, die an jenem Tag ein Kind zur Welt gebracht hatte und an den Aufseher gefesselt den Flur entlanggegangen war, als Mr. Contreras und ich die Krankenstation verließen. In der vergangenen Woche war so viel passiert, dass ich mich daran kaum noch erinnerte. Ich fragte mich, wie sie an meinen Namen und meine Nummer gekommen war, doch dann fiel mir wieder ein, dass ich meine Visitenkarten in dem Krankenhaus ziemlich großzügig verteilt hatte.
»Ja«, sagte ich. »Ich nehme das Gespräch an.«
»Ich warte jetzt schon dreißig Minuten in der Schlange, und hinter mir stehen noch andere Leute. Sie wollen was über Nicola wissen, stimmt's?«
Nicola Aguinaldo. Irgendwie hatte ich sie in den letzten Tagen aus den Augen verloren.
»Wissen Sie was über sie?« fragte ich.
»Gibt's ne Belohnung?«
»Ihre Familie hat nicht viel Geld«, sagte ich. »Aber wenn Sie ihr sagen können, wie Nicola es geschafft hat, aus der Krankenstation zu fliehen, kriegen Sie vielleicht ein paar hundert Dollar.«
»Aus der Krankenstation? Ich weiß bloß, wie sie gestorben ist. Auf 'ner Bahre. Das sollte ihrer Familie mehr wert sein als zu erfahren, wie sie geflohen ist.«
»Soweit ich weiß, hatte sie ein Frauenleiden«, sagte ich und versuchte, meine Stimme prüde klingen zu lassen.
»Ist das vielleicht ein >Frauenleiden<, wenn Sie mit Ihren kleinen Fäusten auf einen Aufseher einschlagen und der Sie brennt? Dann haben Sie aber einen anderen Körper als ich, Miss.«
»Brennt?« Jetzt war ich wirklich verwirrt: Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwelche Brandverletzungen an Nicolas Leiche gesehen zu haben, aber das ließ sich jetzt nicht mehr nachprüfen.
»Sie haben wirklich keine Ahnung, was? Mit 'nem Elektroschocker. So was haben die Aufseher alle, damit Ruhe ist in der Werkstatt. Aber dass sie den mal für Nicola brauchen, hätte niemand gedacht.«
»Deswegen ist sie ins Krankenhaus gekommen?«
»Sagen Sie mir erst, wie's mit der Belohnung aussieht, bevor Sie weiterfragen.«
»Haben Sie gesehen, wie der Aufseher sie mit dem Elektroschocker verletzt hat?«
Schweigen. Bevor sie mir etwas vorlügen konnte, erklärte ich ihr, dass die Information wahrscheinlich fünfzig Dollar wert wäre.
Sie schwieg wieder und sagte dann hastig: »Nicola hat dem Aufseher den Elektroschocker weggenommen und ihn damit bedroht. Da ist er so wütend geworden, dass er ihr einen starken Stromstoß versetzt hat. Da bleibt das Herz stehen, wie auf dem elektrischen Stuhl, wenn man genug Saft draufgibt. Da haben die anderen Aufseher gedacht, sie ist tot, und sie selber aus der Krankenstation rausgerollt, damit niemand merkt, dass sie da gestorben ist. Sie wollten nicht, dass irgend jemand genauer nachfragt. So ist das passiert.«
»Die Geschichte gefällt mir, sie ist wirklich gut. Aber so ist sie nicht gestorben. Wo soll ich den Fünfziger hinschicken?«
»Verdammtes Miststück! Schließlich will ich helfen, oder? Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie nicht dabei waren?«
»Ich habe Nicolas Leiche gesehen.« Ich sagte ihr lieber nicht, an welchen Verletzungen Nicola gestorben war, weil Veronica sich dann rund um diese Information eine weitere Geschichte ausdenken würde. Statt dessen erklärte ich ihr, es wäre mir einen weiteren Fünfziger wert, wenn sie mir jemanden in Coolis nennen könne, der Nicola wirklich gut gekannt habe.
»Vielleicht wüsste ich da jemanden«, sagte sie ein wenig zweifelnd. »Sie hat nicht viel Englisch gekonnt, aber die Mädchen aus Mexiko haben sich nicht so mit ihr abgegeben, weil sie aus China war.«
Ich war verwirrt, kam dann aber zu dem Schluss, dass Veronica sich bloß in der Geographie vertan und mir
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