Die verzauberten Frauen
Er schlug die Seite mit dem Buchstaben P auf.
Porete. Altfranzösisch. Keine Nachfolger.
Das hatte er schon.
Poretke, Ursula, Jüdin aus Dresden, Überlebende des Holocaust. Dahinter stand eine weitläufige Familie. Aber ohne Zusammenhang zum Thema, das Velsmann interessierte.
Porethe, aus dem Walisischen. Ursprünglich französisch, um 1600 in Bristol weitergeführt. Glaubensflüchtlinge. Seitdem über ganz Europa verstreut. Aber ohne bekannten Stammbaum.
Was hieß das?
Jane Porethe. Wenn es keine Ahnentafel gab, konnte der Name ein Ehrenname sein. Eine Art Pseudonym, Zeichen einer geistigen Anhängerschaft.
Das war denkbar.
Velsmann stand wieder auf. Ging hinaus. Beachtete das Foyer nicht. Rief Porethe an.
Nur der Anrufbeantworter.
Er wollte Andrea anrufen, ließ das aber. Sie war weit entfernt. Durch siebenhundert Jahre von ihm getrennt. Verzeih mir, Andrea, dachte er.
Mit unangenehmen Gefühlen kehrte Martin Velsmann in den Lesesaal zurück. Er stand einen Augenblick lang da und war völlig in Gedanken versunken. Warum beschäftigte er sich mit diesen Dingen? Alle diese Gestalten aus ferner Vergangenheit, die Namen, die Ereignisse – sie führten zum Mord auf der Loreley. Und zum Mord in Fulda. Er hatte keine Beweise. Aber er wusste, es war so.
Jemand bat hinter ihm um Verzeihung und drückte sich vorbei. Velsmann murmelte etwas.
Er legte die flache Hand auf seine Stirn. Etwas verschob sich langsam. Etwas rutschte aus dem Gleichgewicht.
Dafür hatte er immer ein besonderes Gespür besessen.
Und alles ging ihn etwas an.
Er stand mittendrin.
Sein Landrover fuhr beinahe von allein nach Norden, eine seelenvolle Maschine.
Einer seiner Vorfahren, er wusste nicht, der wievielte, vielleicht vor zehn oder zwölf Generationen, hatte ein ähnliches Problem gehabt wie er es jetzt hatte. Er hatte sich seine Welt so geformt, dass sie eines Tages voller Feinde war. Und er hatte dennoch nie aufgegeben. Er hatte sein Ding durchgezogen.
Bis die Frauen ihn töteten.
Etwas in ihm lachte bei diesem Gedanken. Er musste bremsen. In Rüdesheim, dachte er, sind alle besoffen und kennen buchstäblich keine Ampeln, keine Zebrastreifen und keine Verkehrsregeln. Als er weiterfuhr, kam ihm wieder sein Urahn in den Sinn. Starke Persönlichkeit. Er bildete sich ein, alles von ihm geerbt zu haben. Außer vielleicht seine Sucht, sich zugrunde zu richten.
Nein, das ganz sicher nicht! Dafür war er nicht gebaut. Er wollte jetzt mehr denn je überleben.
Bald kam Assmannshausen in Sicht.
Wenn ich nichts von ihm geerbt hätte, wüsste ich heute nicht, wohin ich mich zu wenden hätte. Es lohnte sich also, ihm zu danken. Er fuhr am Ortseingang an den Straßenrand. Er konnte sich nicht versenken, wenn er in Bewegung war. Er hielt auf einem schmalen Parkplatz zwischen Ufer und dem »Hotel Krone« an und legte den Kopf auf den Lenker.
Meine Gründer sind stark, dachte er, sie versorgen mich mit Wärme. Ohne sie bin ich verloren.
Er dankte dem einen.
Zu Hause hing das einzige Bild von ihm, das es gab, er hatte es gestohlen, es gehörte ihm, er riss es von der Wand des Abtshauses in Soligny und verbarg es in seinem Heim. Die Ähnlichkeit hatte ihn gleich fasziniert.
Er glich ihm vollkommen. Seine Lippen waren schmal. Seine Augen unbestechlich. Sein Schädel der eines leuchtenden Engels. Ein Dreitagebart, wie Heutige sagen würden, zierte sein spitzes Kinn. Den gekreuzigten Heiland kennenlernen, soll meine einzige Wissenschaft und die meiner Brüder sein , hatte er geschrieben. Welch ein glänzendes Buch! Welch ein vorbildliches Büßerleben, welch hinreißende Worte dieses starken Heeresmannes in den zweitausend hinterlassenen Briefen! Er hatte sie alle gelesen. Und dann noch einmal gelesen.
Gegen jede Vernunft hatte sich sein Urahn aus der Gegenwart zurückgezogen. Von den Menschen entfernt.
Er hatte den Heiland wahrhaft geliebt. Nicht nur in Worten.
Und er verzieh es der Kirche nicht, dass sie diesen, ihren hinreißendsten und segensreichsten Sohn bis heute nicht heiliggesprochen hatte!
Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er aus genau diesem Grund immer ein Rebell gegen die Autoritäten gewesen war. Er musste es sich zugestehen, obwohl er darüber entsetzt war, denn er wollte nur gehorchen. Es saß wie ein Stachel in ihm. Und jetzt würde er ein letztes Mal ungehorsam sein. Er würde den Auftrag, mit dem man ihn betraut hatte, ausführen.
Und dann?
Dann würde er die Beute allein für sich
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