Die verzauberten Frauen
Stuhl zurück.
Kann Folgendes zutreffen, dachte er.
Das Programm einer irdischen, sinnlichen Liebe – von Frauen – zu Gott, bringt einen Orden hervor. Er nennt sich Fama Fraternitas . In diesem Orden sammeln sich die Ideen der Marguerite Porete. Gegen die Fundamentalisten des Papsttums. Es hatte also durch Jahrhunderte hindurch einen Ordenskonflikt gegeben: Porete und die Fama Fraternitas gegen die religiösen Fundamentalisten. Und die Prophezeiung stand zwischen ihnen, wie die Mittellinie zwischen zwei Fußballteams. Porete und die Fama Fraternitas sahen sie als Mahnung an die Menschen, sich und die Schöpfung zu lieben. Die Gegenseite verkaufte diese Prophezeiung als ihnen allein von Gott gegebenen, also heiligen Text einer urchristlichen Verheißung. Als exklusiven Schatz.
Konnte es so gewesen sein?
Wenn man das weiterdenkt, dachte Velsmann, kommt noch etwas anderes hinzu.
Die Erzengel – er nannte sie jetzt so – behaupten, die Prophezeiung sei auf Menschenhaut des Apostels Bartholomäus geschrieben. Sie sperren sie wie das Grabtuch Christi weg, verehren sie wie eine Reliquie im Stillen, vielleicht bei ihren elitären Ritualen, damit niemand die Mahnung lesen und damit entweihen kann. Die Verheißungen sollen sich erfüllen. Sie werten sich damit als elitärer Orden auf, rücken sich in den Mittelpunkt der Wahrheit. Was für eine Macht würde eine solche Geheimloge mit dem Draht bis ganz nach oben ausgeübt haben! Daran gemessen war Opus Dei ein Kindergarten!
Und die andere Seite? Wenn es sie überhaupt gab!
Velsmann nannte sie der Einfachheit wegen Beginen.
Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten, frei von Gelübden und Kirchenregeln, materiell ungesichert. Sie arbeiten, kümmern sich um Waisen, Kranke, Arme, gegenseitige Schwesternschaft. Klöster sind ihnen ein Gräuel.
Was will diese Seite, die Seite der Frauen, mit diesem Text?
Sie will, dachte Velsmann weiter, die Botschaft, die eigentlich auf Marguerite Porete und nicht auf Bartholomäus zurückgeht, nicht als Reliquie für eine elitäre Minderheit missbraucht sehen, sondern sie als Mahnung den Menschen zugänglich machen. Sie ihnen ununterbrochen vorlesen, laut. Sie will Aufklärung.
So konnte es sein.
Das würde den Widerspruch in der Handschrift erklären, den Velsmann gespürt hatte. Erst die Mahnung an die Menschen in Fürsorge um ihr Wohlergehen. Geschrieben von Porete. Im letzten Textdrittel die brachiale Umdeutung zu einer Endzeitprognose mit Daten und Fakten. Hinzugefügt von den Erzengeln.
So könnte es tatsächlich sein, dachte Velsmann.
Es könnte aber auch völlig anders sein, und er spann sich nur ein Konstrukt zurecht, um Erlebnissen in seiner Kindheit einen Sinn zu geben.
War das nicht zutiefst menschlich? Der Beginn jeder Weltanschauung?
Moment, dachte er, konzentriere dich noch einmal. Er stand auf und ging hinaus. Der Anblick des Foyers hatte sich nur unwesentlich geändert, aber Velsmann achtete jetzt nicht darauf. Es war ihm egal, was die andere Seite plante – wenn es sie gab.
Er trat auf die Straße.
Es hatte zu regnen angefangen. Er blickte zum Himmel. Graue, niedrig hängende Wolken. Keine Hoffnungsschimmer. Keine hübschen, fliegenden Engel.
Also nochmal, dachte er. Was haben wir.
Diese angebliche Prophezeiung. Sie ist ein auf Porete zurückgehendes Pamphlet gegen die Kirche, das sich für die freie Liebe jedes Einzelnen zu Christus einsetzt. Brentano folgte anfangs ganz diesem Programm. Er muss davon begeistert gewesen sein. Und später die Abkehr und Bekehrung zum strengen, katholischen Fundamentalismus. Anerkennung der Autoritäten. Clemens war einer der Erzengel der Geschichte geworden.
Aber Brentano war im Augenblick nicht Velsmanns Problem.
Der Orden in der Tradition Poretes, der sich Fama Fraternis nannte, dürfte ein Frauenorden gewesen sein. Ein Orden, getragen von der Liebe verzauberter Frauen, wie sie Christus um sich versammelt hatte. Die männliche Gegenseite, dachte Velsmann, führt von einem unbekannten Datum an die Prophezeiung nicht mehr auf Porete zurück. Sondern sieht den Apostel und Märtyrer Bartholomäus als Verfasser.
Das wertet sie natürlich auf. Und sie müssen riesigen Erfolg damit gehabt haben.
Das erklärt den verbissenen Kampf.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, ließ sich Velsmann von der müden Bibliothekarin, die auf das Display ihres Handys starrte, einen Band mit europäischen Namensgenealogien und ihren etymologischen Herleitungen bringen.
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