Die verzauberten Frauen

Jahre getrennt von ihm. Das war mehr als ein Ozean aus Abgründen und Dunkelheit. Aber sie konnte nichts dafür. Er war es, der die Zeiten und Distanzen bestimmte. Wahrscheinlich war er als Beziehungspartner absolut fehlkonstruiert.
    Martin Velsmann hatte sich niemals einsamer gefühlt. Aber er konnte nicht anders als weiterzumachen. Er war allein, und er merkte, wie getränkt von Selbstmitleid dieser Gedanke war.
    Alles geht dich etwas an. Alles, was geschieht, hat mir dir zu tun.
    Das war die Botschaft.
    Und damit stand ein gewisser Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé auf der Agenda. Sein nächstes Gespenst aus der Vergangenheit, das auf ihn wartete.
    Das Monstrum.

    Tibor Velsmann wusste, dass der geheimnisvolle Text von Clemens Brentano keine Kristallkugel für Wahrsager war, die Vorhersagen für jedermann enthielt, sondern dass er gezielt suchen musste. Nur mit dem entsprechenden Input gab die Matrix ihre verschlüsselten Informationen preis.
    Er war auf die Idee gekommen, dass Brentano seinen Text in einer ganz bestimmten Art und Weise geschrieben hatte, an die er bisher nicht gedacht hatte. Deshalb entfernte er noch einmal sämtliche Leerstellen zwischen den Worten der Botschaft und verwandelte den Text in eine fortlaufende Buchstabenfolge.
    Der Rechner zeigte ihm exakt siebenhundert Zeichen.
    Tibor nahm an, er würde mit dieser Schreibweise den Textauszug aus der Chronika des fahrenden Schülers so herstellen, wie er tatsächlich ursprünglich geschrieben worden war   – ein Teppich aus Buchstaben, der die Prophezeiung zudeckt und bannt. Und wenn das stimmte, dann würde er die Stimme des Dichters ganz direkt hören. Ganz nahe.
    Sein Rechner begann zu arbeiten. Weiße Kolonnen von Textblöcken huschten auf dem schwarzen Untergrund des Schirms an seinen aufmerksamen Blicken vorbei. Tibor war inzwischen daran gewöhnt, in Bruchteilen von Sekunden Anomalitäten zu erkennen, eine Wahrnehmung, die nur mit der an einem Zugfenster rasend schnell vorbeiziehenden Baumlandschaft vergleichbar war, eine segmentierte Wahrnehmung mit aufgerissenen Augen. Es war die spezielle Sensibilität des Hackers, die das Wichtige erkannte, aussortierte und bannte und den Rest vorbeilaufen ließ. Tibor Velsmann wusste, seine wahre Leidenschaft war erwacht. Er hatte eine Tätigkeit gefunden, nach der er lange gesucht hatte.
    Seine Methode nannte er den Siebener-Schritt .
    Der Rechner suchte zunächst verborgenem Sinn, indem er immer sieben Buchstaben übersprang. Jede mögliche Auslassungssequenz konnte entscheidend sein. Neue Wörter und Wortkombinationen entstanden. Manche surreal, manche rätselhaft, manche unsinnig. Tibor bekam allmählich das Gefühl, der Dichter hatte mit unendlich vielen Bedeutungen gespielt. Woher hatte er diese Fähigkeit besessen, die nur am Computer sichtbar werden konnte? Nun gut, sein Vorsprung war gewesen, dass er überhaupt eine Botschaft besaß, die er platzieren wollte. Als Bannstrahl. Und sie war auf einen Leser hin geschrieben worden, der das Zeitschloss dieser Nachricht irgendwann einmal aufbrechen wollte. Ein Hacker mit der Energie, der Zeit ein paar Geheimnisse zu entreißen,   – und mit den technischen Möglichkeiten seiner Zeit.
    Dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen.
    Tibor konnte keine brauchbaren Ergebnisse entschlüsseln.
    In einem neuen Schritt begann er, die Operation mit dem zweiten Buchstaben des Textblockes zu wiederholen. Sieben Buchstaben Abstand. Er wiederholte diese Übung, bis er den letzten Buchstaben des Textes erreicht hatte, von dem aus der Rechner den ersten Buchstaben am Textanfang als zweiten behandelte. Wieder keine verwertbaren Ergebnisse.
    Eine neue Anordnung. Neue Auslassungen, diesmal als Dreierschritt. Wieder begann der Rechner zu arbeiten.
    Mehrmals stieß er jetzt auf Begriffe, die gemeinsam codiert schienen. Auf Daten, die sich im Zentrum der Matrix kreuzten. Zwei Begriffsreihen.
    Liebe, Porete, Protokoll, nequaquam vacuum.
    Derrance,
Ocso
, Prophezeiung, Frieden in Gott.
    Er setzte die Schlüsselworte in ein bestimmtes Verhältnis. Und begann die Operation von vorn.
    Der Rechner ermittelte regelmäßig wiederkehrende Auslassungsintervalle. Ein Kreuzworträtsel für den Benutzer. Für den Rechner eine kalte Operation. Die beiden Datenreihen blieben unverändert.
    Liebe, Porete, Protokoll, nequaquam vacuum.
    Derrance,
Ocso
, Prophezeiung, Frieden in Gott.
    Was war nequaquam vacuum? Was
Ocso
?
    Tibor schlug in einem Internet-Lexikon nach.
Ocso
(Ordo Cisterciensis