Die verzauberten Frauen
sagen, was mir viel bedeutet. Ich zeig’s Ihnen mal!«
»Hilfe!«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Velsmann sah vor seinem geistigen Auge, wie sie sich im Bürosessel zurücklehnte und zur Decke blickte. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiter wusste. So, als stünde oben ein geheimer Text, ihr Text.
Martin Velsmann rief seine Frau an. Andrea gab ihm für den Sonnenuntergang frei und unterließ jeglichen Vorwurf. Er fuhr zum Rhein hinunter und kam gerade noch rechtzeitig, um zu erleben, wie die rote Sonne Funken sprühend im Strom versank. Es zischte laut.
Eigentlich hatte Martin Velsmann später am Abend nach Fulda zurückfahren wollen. Aber die Landschaft hatte ihn gepackt. Jedenfalls glaubte er, dass seine innere Erregung daher rührte. Er rief seine Frau noch einmal an und sie gestattete ihm, über Nacht in Eltville zu bleiben, sie selbst wollte den Abend für das Studium von Urlaubsprospekten nutzen. Velsmann hatte den Eindruck, Andrea träume sich aus Fulda hinaus in alle möglichen Winkel, vor allem die Küsten hatten es ihr angetan. Musste er darüber besorgt sein?
Er spazierte über die Uferpromenade am Strom entlang. Auch nach Sonnenuntergang blieb es noch hell genug. Das Wasser des Rheins schimmerte beinahe weiß, das Farbband verlor sich nach Westen zwischen den hohen, von Weinhängen eingerahmten Ufern.
Die Kindheit holte ihn ein. Alles hier schien für ihn gemacht. Der Besuch im Kloster Eberbach mit Vater und Großvater fiel ihm wieder ein. Großvater war vor acht Jahren gestorben, der Vater im letzten Sommer. Die Tante war bei einem Verkehrunfall Ende der Siebzigerjahre ums Leben gekommen, der alleingelassene Onkel aus dem Marixgarten weggezogen, er lebte jetzt in einem Altersheim in der Pfalz. Peinlich berührt dachte Velsmann, dass ihm das alles recht war, so musste er kein schlechtes Gewissen haben, weil er auf einen Besuch absolut keine Lust verspürte.
Irgendwas war damals mit dem Licht gewesen. Mit dem Licht über dem Rheintal.
Ob dieser Herr Rosenthal wenigstens noch lebte? Velsmann erinnerte sich an den Klosterverwalter. Durch ihn hatte er den lesenden Mönch kennengelernt, der die Wörter aus seinem versteinerten Buch herausschüttelte. Und die wispernden Stimmen in den dicken Mauern des Klosters gehört. Als Junge hatte das seinen Blick geschärft. Das Kloster erzählte viele Geschichten, vielleicht war er durch diesen Besuch vor zwanzig Jahren überhaupt erst Polizist geworden. Und kein Tänzer.
Der lachende Abt fiel ihm ein.
Ja, der lebt bestimmt noch, dachte er heiter. So munter wie die Figur aus Basaltstein damals gewirkt hatte, konnte ihr nichts etwas anhaben. Morgen früh würde er ins Hochtal zum Kloster hinauffahren. Vielleicht, obwohl es Sonntag war, konnte er mit Rosenthal sprechen. Oder sich zumindest etwas über ihn erzählen lassen.
Der scheußliche Mord auf der Loreley!
Die Gedichte des Clemens von Brentano!
Darum war es gegangen. Waren das nicht zwei Welten, die völlig unvereinbar waren? Warum zogen ihn die Gedanken daran derart in Bann? Es musste mit der Erlebniswelt seiner Kinderzeit zu tun haben.
Alles, was geschieht, geht dich etwas an!
Jetzt war es wieder da. Velsmann hatte das Gefühl, es war seitdem kein Tag vergangen.
Er übernachtete in einem kleinen Landhotel außerhalb von Winkel in den Weinbergen, das »Kühn’s Mühle« hieß. Am nächsten Morgen rief er im Brentanohaus an. Eine unfreundliche weibliche Stimme belehrte ihn darüber, dass über diesen Privatanschluss keine öffentlichen Auskünfte zu erhalten waren. Bevor die Stimme auflegen konnte, fragte Velsmann, ob sie ein Gedicht oder ein Märchen von Clemens kannte, das sich mit der berühmten Loreley beschäftige. Ob er Witze mache? Nein. So höre er sich aber an. Ein Witzbold am frühen Morgen. Sie legte auf.
Na gut, dachte Velsmann, jeder hat mal einen schlechten Tag.
Er fuhr ins Kloster. Sein weißer Scorpio schnurrte über die schmalen Landstraßen. Je höher er kam, desto dichter wurden die Vogelschwärme. Rechts blieben die Mauern der Irrenanstalt zurück. Velsmann erinnerte sich, wie er als Junge davor mit dem Fahrrad Kreise gefahren war. Damals waren die Mauern noch strahlend weiß gewesen. Dann kam schon der Park des Klosters in Sicht. Darin türmte sich, wie ein ästhetischer Kristallisationspunkt im Konzept eines Malers, die Kirche auf. Umkränzt von blühenden Obstbäumen.
Velsmann parkte und ging in das Tal, durch das der schmale Kisselbach rauschte, der aus dem
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