Die verzauberten Frauen
diesem Fall«, brummte Velsmann. »Es gibt ja auch keine Tatumstände, also eigentlich auch überhaupt keinen Fall. Ich bin nur ein kleiner Literaturfreund, der seit seiner Kindheit ein bisschen herumschnüffelt. – Dieses Zitat kann man tatsächlich auf dem Pergament lesen? Ich wusste das natürlich nicht, ich bin nur gelegentlich an Romantikern interessiert, das kommt aus früheren Zeiten.«
Der Archivar stützte sich weiter auf die Grabegabel und legte den Kopf in den Nacken.
» Er taumelte zurück, und da er zu dem Leichnam seiner Geliebten kam, nahm er ihn auf seinen Schoß. Auf seiner Geliebten lag das Buch aufgeschlagen, wo sie hingeschrieben hatte, dass sie ihn liebte, und wie er so auf das Buch weinte, sah er Zeilen zwischen den anderen erscheinen. Da stand sein ganzes Geschick geschrieben … Da weinte er immer mehr und ritzte sich die Adern und schrieb ein kurzes Lied von seinem Untergang. – Das ist der ganze Text von Clemens, der auf dem Pergament sichtbar wird. Da hinten, im Parterre, hinter dem vergitterten Fenster liegt es, ich habe es mir vorhin selbst angeschaut. Es ist tatsächlich faszinierend.«
»Und es ist zweifelsfrei von ihm?«
»Der Text ist von Clemens. Ob er das Zitat persönlich auf den Wisch, wie Sie sich ausdrückten, geschrieben hat, weiß niemand. Obwohl ich es glaube, man kennt ja die Handschrift des berühmtesten Sohnes des Hauses, nicht wahr, aber die kann man nachahmen. Das wird offiziell geklärt werden können. Und jetzt lassen Sie mich bitte zufrieden. Sie sehen ja, was für Arbeit die Wurzeln dieser verflixten Brombeeren machen. Die fallen über alles her.«
So einen Schädel muss erst mal jemand haben, dachte Martin Velsmann und verließ den Garten. Er zog sein Mobiltelefon aus der Innentasche seiner Jacke. Er war stolz darauf, das schwarzweiße DynaTac 8000x von Motorola als bisher einziger Bulle in Fulda zu besitzen, ein doppelt handgroßes Gerät, dessen Ladestation sich in seinem Auto befand. Er zog die Antenne heraus, rief Karen Breitenbach an und berichtete.
»Sie haben ihn erschreckt«, ermahnte sie ihn.
»So bin ich nun mal«, verteidigte sich Velsmann. »Aber ohne Erschrecken hätte er nur stumm vor sich hin gegraben, so lange, bis er zwischen Brombeerwurzeln verschwunden wäre. Ich glaube, ich muss mich mehr mit dem Dichter der Rheinromantik beschäftigen.«
»Nein, müssen Sie nicht, Herr Inspektor. Hier gibt es jede Menge anderer Sachen zu tun. Es ist zwar Samstag, aber die Verbrecher sind nicht im Wochenende. Es hat eine Brandstiftung im Dachstuhl der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars gegeben.«
Velsmann war an näheren Einzelheiten nicht interessiert. »Löschen Sie, Kollegin Breitenbach, löschen Sie! Ich sehe mir den Sonnenuntergang bei Winkel an.«
»Sie wollen nicht nach Fulda zurückkommen?«
»Nein«, sagte Velsmann, »jedenfalls nicht im Augenblick. Später schon. Heute habe ich dienstfrei, sonst könnte ich mich ja gar nicht mit diesem Wisch beschäftigen.«
»Und, haben Sie etwas erfahren, was Ihre Neugier löscht? Ehrlich gesagt, verstehe ich sowieso nicht, warum Sie diese Sache interessiert. Was geht Sie das Kloster Eberbach an, das ist feindliches Ermittlungsareal!«
»Nichts, absolut gar nichts«, sagte Velsmann gedämpft. »Aber haben Sie schon mal was über Kinderträume gelesen, verehrte Trägerin eines hohen Intelligenz-Quotienten?«
»Fragen Sie mich was, ich weiß alles! Vor allem über Kinderträume!«
»Ach, waren Sie selbst mal Kind?«
»Lange Zeit!«
»Ich bin als Kind nachts aus dem Fenster gefahren, zusammen mit meinem Bett übrigens. Jede Nacht. Ich war im Reich der Märchen und Sagen. Und da gab es zum Glück keine einzige oberschlaue Philosophie-Studentin, die zur Polizei wollte, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Schade. Ich hätte es gewesen sein können. Wir wären uns in Märchen sieben begegnet. Sie und ich, mit blauen Blumen im Knopfloch, stellen Sie sich das vor!«
»Sie waren damals noch gar nicht auf der Welt«, sagte Velsmann barsch.
»Na, hören Sie! So jung bin ich auch nicht! Wollen Sie mich beleidigen?«
»Hören Sie, seien Sie ein nettes Mädel! Besorgen Sie mir bitte von irgendwoher den Text Chronika des fahrenden Schülers von Clemens von Brentano.«
»Noch nie von gehört.«
»Das ist unerheblich. Ich will es lesen.«
»Warum denn?«
»Bildung ist alles. Ich muss jetzt Schluss machen, sonst verpasse ich den Sonnenuntergang in Winkel. Und das ist was, kann ich Ihnen
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