Die verzauberten Frauen
Güte, immerhin haben wir eins geschafft, wir sind eine Familie!«
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte Andrea.
Tibors Finger zauberten. Sie flogen so schnell über die Tastatur, dass sein Vater den sirrenden Flügelschlag einer Libelle zu sehen glaubte. Dann lehnte sich Tibor zurück und deutete auf den Schirm. »Es ist tatsächlich eine zweite Prophezeiung«, sagte er. »Und das wird wahnsinnig spannend. Ich meine den Text von Clemens. Um den richtig einordnen zu können, habe ich mich mit seinem Leben beschäftigt. Es ist alles ziemlich einleuchtend.«
»Schläfst du eigentlich manchmal, Sohn?«, fragte Velsmann besorgt. Er hatte die Schatten unter Tibors Augen gesehen.
»Es gibt Zeiten fürs Schlafen und Zeiten fürs Wachsein«, orakelte Tibor. »Schau hierhin.«
Velsmann musste seinen Stuhl verrücken, um die Zeilen auf dem Schirm des Laptops lesen zu können. Er sah Kolonnen von Buchstaben, nebeneinander und untereinander, nach Blöcken angeordnet.
»Ich sehe alles«, sagte er.
»Ich habe aufs Geratewohl eine Zufallsanalyse gemacht, sie ergab, dass verschlüsselte Informationen in Form von konstanten Buchstabenfolgen in Brentanos Text eingeflochten sind, und dann sah ich einen verborgenen Text unter der Oberfläche, den konnte ich zusammensetzen. Es existiert tatsächlich eine Handschrift in der Handschrift, wie ich vermutet habe.«
»So«, sagte Velsmann vorsichtig.
»Es ist Mathematik«, erklärte Tibor. »Wahrscheinlich ist schon vorher jemand draufgekommen, irgendein Kryptoanalytiker. Aber das versteht man erst mit den rechnerischen Möglichkeiten des Computers. Clemens nennt zwei Namen, natürlich in verschlüsselter Form, vielleicht hat das mit dem Mord auf der Loreley zu tun. Er war dabei, er konnte es nicht verhindern!«
»Das willst du herausgelesen haben?«
»Es klingt unglaublich. Aber glaub mir, es war so!«
»Ich weiß nicht, sollen wir dem wirklich weiter folgen?«
»Deine Therapeutin hat doch gesagt, du sollst in deinen Keller gehen, oder? Hier stehen wir mittendrin.«
»Na gut, aber lass das Licht an.«
»Damit du mir glaubst, gebe ich dir einen kleinen Einblick in Dinge, die für Clemens eine zentrale Rolle gespielt haben. Seine Codeworte, sozusagen, die Themen, um die sein Denken kreist. Die finden wir später wieder. Alles biografisch abgesichert. Willst du die Langfassung oder die Kurzfassung?«
Velsmann blickte auf die Uhr. »Andrea ist oben allein. Mach die Kurzfassung.«
»Unterbrich mich nicht, auch wenn ich weit aushole.«
»Fang schon an.«
»Nach dem Studium seines Lebens gehe ich davon aus, dass Clemens irgendwann folgende Quersumme gezogen hat: Liebe ist das einzig Wahre, Liebe ist Poesie. Liebe und Poesie bannen das Unheil, die Prophezeiungen. Du musst wissen, Clemens nannte seine einzige, seine große Liebe Sophie Mereau die Poesie , sie war für ihn die Gläubige der Liebe, er ist der Poet der Liebe. Ich kann nichts auf Erden als Lieben … , schreibt er schon in einem Brief an ein Mädchen, um das er vergeblich wirbt. Später in einem Brief: Ich habe nichts, gar nichts in der Welt, was mich liebt, und bin verdammt, alles zu lieben. Aus diesem krass romantischen Menschen wird im letzten Lebensdrittel eine Art Erzengel. Er begräbt die Prophezeiung mit seiner Handschrift darauf im Jahr 1806, als er noch ein liebender Poet war. Später kommt er nicht mehr dazu, sie zu holen. Er wird vom Leben getrieben. Aus dem liebenden Poeten wird ein verbitterter Fanatiker und Prophet der Gottesliebe und der Schöpfung. Zuerst war die Romantik für ihn Poetisierung des Lebens, Freiheit der Liebe. Man müsse fühlen und sich der Liebe hingeben, denn der Mensch ist von Wundern umgeben. Später will er davon nichts mehr wissen. Das ist die Quersumme.«
»Eine perfekte Vorlesung«, sagte Martin Velsmann. »Warte einen Moment, ich will schnell nach Andrea sehen, allein verblutet sie.«
Er rannte die Treppen hinauf. Andrea saß noch immer in der Küche. Sie hielt die verletzte Hand eng an die Brust gepresst, hatte in der anderen ein Buch und las darin.
Velsmann küsste sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Tibor hat mir dieses Buch hingelegt«, sagte Andrea. »Eine Biografie Brentanos. Es ist ja schön, dass sich der Junge mit deutscher Literatur beschäftigt. Aber warum ausgerechnet Brentano?«
»Na ja, er hat ein spezielles Interesse daran«, erwiderte Velsmann vorsichtig. »Jedenfalls arbeiten wir jetzt alle gemeinsam am selben Fall.«
»Wie soll ich das
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