Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
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Peter Prange
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Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
riet ihr Stingin und blickte auf das Bild des Erlösers, das Agnes beim Einzug in dieses Haus voller Hoffnung über der Kommode aufgehängt hatte. Doch Gottes Sohn mit dem sanft lächelnden Blick hatte stets nur tatenlos zugeschaut, wenn Andreas ihr wieder einmal Gewalt angetan hatte. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?
KAPITEL 16
23. 11. 1534
Fünfter Verhandlungstag
A gnes wählte für ihren Auftritt vor Gericht ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid. An einem Tag wie heute war ihr nicht nach Farbe zumute, schon gar nicht nach Putz. Außerdem befand sie sich noch immer in Trauer, auch wenn sie nicht mehr so genau wusste, was sie am meisten betrauerte. War es der Tod eines im Grunde ungeliebten Ehemannes? War es der Verrat ihrer Cousine Gerlin, der sie immer noch schmerzte, oder die verlorene Liebe Richard Charmans, mit dem alles hätte besser werden können? Oder war es vielmehr die Trauer über ein Leben, das von Beginn an vom schönen Schein und Tand geprägt gewesen war und über das sie niemals hatte selbst bestimmen können?
»Augustin von Küffen wartet unten im Empfangszimmer auf Euch.« Stingin sah sie mit betrübten Augen an. Die treue Magd wusste wohl nur zu gut, wie es um Agnes’ und damit nicht zuletzt auch um ihr eigenes Schicksal bestellt war.
»Er hat vorgeschlagen, mich zum Gericht zu begleiten«, antwortete Agnes mit abwesendem Blick, »weil er denkt, dass ich auf dem Weg dorthin den Schutz eines aufrechten Mannes benötige. Er ist ein wahrhaft braver, unverdorbener Kerl, der einem den Glauben an das Gute im Menschen zurückgeben kann.« Sie machte einen tiefen Atemzug und stieß ihn mit einem ebenso tiefen Seufzer wieder hervor. »Doch was nützt das, wenn ich am Ende alles verliere?«
»Augustin!« Sophie, die sie in all der Trübsal beinahe vergessen hatte, sprang wie der Blitz aus dem Bett, als sie den Namen des jungen Mannes hörte. Während des Prozesses war Augustin nicht nur Agnes, sondern auch dem Mädchen ein verständnisvoller Begleiter geworden.
»Du musst dich erst anziehen, bevor du nach unten läufst«, mahnte Agnes ihre Tochter, die über ihrem schlanken Leib nur ein weißes, bodenlanges Spitzennachthemd trug.
Das Mädchen zögerte einen Moment, als ob sie darüber nachdenken müsste, was die Mutter gesagt hatte. Dann nickte sie und begab sich zur Kleidertruhe. Sophie war ein ausgesprochen hübsches Kind, mit wachen Augen und lustigen Sommersprossen, die ihrem Lachen etwas Schelmisches verliehen, auch wenn sie dieses in den letzten Wochen verloren zu haben schien. Als junge Frau wäre sie gewiss eine glänzende Partie für einen Patrizier oder einen der reichen Händler vom Niederrhein gewesen.
Agnes ertappte sich dabei, wie sie schon in der Vergangenheit dachte, obschon noch gar nichts entschieden war.
Wenig später folgte sie ihrer Tochter die Treppe hinunter in die große Empfangshalle, in der Augustin von Küffen auf sie wartete. Er war wirklich ein ansehnlicher Bursche, groß und schlank, mit kräftigem, schwarzem Haar und sehnsüchtig dreinblickenden dunklen Augen.
»Wie geht es Euch?«, fragte er mit besorgter Miene und kam ihr entgegen.
»Wie soll es einer leidgeprüften Frau gehen, deren gesamte Zukunft auf dem Spiel steht?«, erwiderte Agnes bekümmert. »Ich habe die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan und fühle mich auf Schritt und Tritt von Dämonen verfolgt.«
»Habt Ihr schon etwas zum Frühstück gehabt?«, fragte Stingin den jungen Mann, während sie mit einem Haufen schmutziger Wäsche an ihnen vorbeieilte.
»Habe ich«, rief ihr Augustin hinterher. »Außerdem ist mir nicht nach Essen zumute, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht ergibt sich ja nach der Verhandlung eine Gelegenheit, wenn es etwas zu feiern gibt«. Mit Blick auf die kleine silberne Standuhr, die auf einer ebenholzfarbenen Anrichte thronte, fügte er hinzu: »Wir müssen jetzt gehen. Zur zehnten Stunde beginnt der Prozess.«
Es hatte zu regnen aufgehört, als Agnes mit ihrem treuen Begleiter nach draußen in die Sternengasse trat. Überall hatten sich lästige, braune Pfützen gebildet, die es zu umgehen galt. Als kleine Entschädigung blitzte die Sonne wärmend hinter den Wolken hervor, als ob sie Agnes und dem jungen Mann Mut zusprechen wollte. Mit festem Schritt, die Kapuze ihres langen Wollmantels tief in die Stirn gezogen, marschierte Agnes neben Augustin von Küffen einem ungewissen Schicksal entgegen. Der Weg zum Domhof erschien ihr diesmal viel weiter als sonst.
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