Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Gefahr und Versuchung lauerten.
Zur gleichen Zeit standen im obersten Stockwerk des Hauses die Begine Anna und der Kaufherr van Geldern beisammen.
»Die Dachkammer ist zugig und unbequem. Ich denke, Ihr habt schönere Gasträume in Eurem Haus«, murrte die Schaffnerin, während sie mit einem Druck ihrer Hand die strohgefüllte Matratze überprüfte. »Dieses Lager ist allenfalls eines kleinen Dienstboten würdig.«
Van Geldern betrachtete die anmaßende Person im Licht der Abenddämmerung, das durch eine kleine, unverglaste Luke in die Kammer fiel. »Hast du nicht das Gelübde der Armut abgelegt?« fragte er höhnisch.
»Spart Euch Euren Spott. Zu den Armen gehöre ich bald nicht mehr.«
Der Kaufmann trat an das Fenster und starrte in den dunklen Himmel. »Deine Zuversicht scheint mir verfrüht. Noch ist Rebecca nicht verurteilt.«
»Habt Ihr plötzlich Zweifel?« fragte Anna kopfschüttelnd.
»Ich habe Zweifel an dem Wert deiner Versprechungen. Columba lebt noch immer im Beginenkonvent und besucht täglich ihre Tante. Wenn sie so weitermacht, könnte auch ein Verdacht auf sie fallen.«
»Der Gewaltrichter wird es verhindern. Schließlich ist er Euch zu großem Dank verpflichtet, nicht wahr?« Anna ließ sich auf die Strohmatratze fallen, spürte die kratzigen Halme in ihrem Rücken. »Nein«, sagte sie trotzig, »dieses Lager nehme ich nicht an.«
»Ein anderes wirst du nicht von mir bekommen.«
»Ich denke doch. Und noch bei weitem mehr.« Langsam erhob sie sich von dem Bett und trat hinter den Kaufmann. Sie streckte die Hand vor, um ihn am Ärmel seiner pelzgefütterten Schaube zu berühren. Im letzten Moment und beim Anblick seines angespannten Rückens zuckte sie zurück. Es war noch zu früh.
»Was«, begann sie schließlich mit einschmeichelnder Stimme, »wenn ich noch ein paar hübsche Beweise hätte, die den Prozeß gegen Rebecca beschleunigen würden?«
Der Kaufmann drehte sich zu ihr um, ihre Augen leuchteten im trüben Licht. »Ihr liebt, soweit ich weiß, verräterische Schriftstücke, nicht wahr? Ich denke an die Urkunden, die der Dürre über meine Person besorgte.«
Van Geldern räusperte sich. »Was sollte das mit Rebeccas Fall zu tun haben?«
»Nichts. Ich hätte sie nur gern zurück. Im Gegenzug biete ich Euch Briefe, die Rebeccas Ende vorantreiben.« Sie machte eine kurze Pause und genoß die Anspannung, die sie in den Zügen van Gelderns erkannte. »Es sind Briefe des Diakons. Liebesbriefe.«
Der Kaufmann sog hörbar den Atem ein. »Du lügst. Nie wäre Rebecca so töricht gewesen, solche Briefe in Empfang zu nehmen oder aufzubewahren.«
Anna legte kokett den Kopf zur Seite – eine Bewegung, die den Kaufmann mit Abscheu erfüllte.
»Ich war die Liebesbotin zwischen beiden. Mag sein, daß ich nicht jede Nachricht zustellte.«
»Ich werde mir das Geschäft überlegen«, sagte van Geldern und schob die Begine zur Seite. Mit langsamen Schritten ging er zu der dünnen Brettertür.
»Überlegt nicht zu lange«, warnte ihn die Schaffnerin, »Papier brennt so leicht, und hier ist mir sehr kalt, so kalt, daß ich sicher ein hübsches Feuerchen machen werde.«
Der Kaufmann drehte sich nicht mehr zu ihr um, während er die Tür öffnete. »Du wirst ein anderes Zimmer bekommen«, sagte er kalt, als er in den Gang trat.
»Und andere Kleider!« rief Anna munter. »Schließlich bin ich nun keine Begine mehr. Im Schlafgemach Eurer Frau sah ich viele Truhen. Sicher findet sich darin ein kleidsames Samtgewand, mit dem ich bei Tisch Ehre einlege.«
Wutentbrannt drehte der Kaufmann sich noch einmal um, drohend reckte er das Kinn vor. »Treibe es nicht zu weit, du elende Metze.«
»Nicht weiter als nötig«, gab Anna zurück und senkte die Stimme zu einem kehligen Gurren, »nicht weiter, als Ihr es wünscht.«
»Hure!« stieß der Kaufmann hervor und schloß die Tür. Wenig später hielt Anna die Urkunden über ihre Vernehmungen und Prozesse in den Händen, während der Kaufmann in seinem Kontor die Briefe des Diakons studierte.
Lachend warf sich Anna auf das weiche Bett in dem holzgetäfelten Gastzimmer, das man für sie gefegt und gelüftet hatte. Sie drückte die knisternden Pergamente an sich, zerknüllte sie und warf sie in das hoch auflodernde Kaminfeuer. Nun war sie frei, wirklich frei und dem Kaufmann gleichgestellt. Er hatte nichts mehr gegen sie in der Hand, sie war sicher.
7
A m nächsten Morgen beschlossen der Greve, die beiden kurfürstlichen Schöffen und der ebenfalls vom
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