Die Visionen von Tarot
rief Jesus, und eine Träne rann ihm über die Wange. „Religion ist doch ein Prinzip und kein Gesetz. Jene, die den Weg noch nicht gefunden haben, sollte man bekehren und nicht vernichten. Wer hat dies getan?“
Bald fanden sie es heraus. Die Christen waren es gewesen. Sie hatten ein Abkommen mit Gracchus, dem Stadtpräfekten Roms, geschlossen. Bald darauf erfolgte die Verfolgung der Mithraisten im gesamten Kaiserreich, und die Religion wurde zugunsten des Christentums verboten.
„Aber damit habe ich nichts zu tun!“ protestierte Jesus. „Man kann doch die Religion nicht von der Moral trennen! Wie kann man andere in meinem Namen verfolgen?“
Aber es war so. Andere Religionen teilten das Schicksal des Mithraismus, und das Christentum dominierte in Rom. Als man die nordeuropäischen Stämme christianisierte, brachten diese jedoch ihre heidnischen Werte und heidnischen Feiertage ein. Diesen Festivitäten verlieh man christliche Namen: Weihnachten, Ostern – aber sie blieben grundsätzlich heidnisch, und von daher waren sie leicht zu kommerzialisieren.
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, fügte Jesus traurig hinzu. „Sie haben aus meinem Tempel … einen Markt gemacht!“ Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen.
Nun wurden die Juden durch die Christen verfolgt, ebenso die Häretiker: andere Christen, die von der offiziellen Kirchenlinie abwichen. Doch auch die Kirche selbst war zerstritten und spaltete sich entsprechend dem Vorbild des Reiches. Später schickte man Armeen heidnischer Christen zurück ins Heilige Land, um die Nichtchristen zu bekämpfen: die Kreuzzüge.
„Ich kann nicht einfach dabeistehen und zusehen!“ rief Jesus. „Wo ist das mitfühlende Verständnis, das ich verkündet habe? Daß man andere so behandelt, wie man selber behandelt zu werden wünscht? Man hat meinen Namen für eine Monstrosität mißbraucht! Ich muß eingreifen …“
Ungeachtet dessen nahm die Geschichte ihren Verlauf. Die Kirche, die sich auf den Namen Jesu berief, etablierte sich, nur um sich in menschliche (statt göttliche) Fragmente zu organisieren. Es gab Streitigkeiten über das Wesen Christi. Aus dem Hauptstamm der Kirche spalteten sich die schismatischen Religionen ab: Arianer, Nestorianer, Monophysiten. Schließlich spaltete sich die Kirche selber in einen östlichen und einen westlichen Flügel – und in katholische und protestantische Gruppierungen, die letzteren noch in die verschiedensten Sekten: Lutheraner und Calvinisten, Episkopalisten, Presbyterianer, Puritaner, Baptisten, Kongregationslisten, Quäker und Methodisten – und so weiter und so fort, bis man kaum noch einen Überblick hatte. Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert sahen kein Ende dieser Aufsplitterung, bis das Ganze schließlich zu der Situation auf dem Planeten Tarot kulminierte.
„Nein, nein!“ rief Jesus. „Bei diesen Fragmenten bin ich keineswegs sicher, ob sie mit meiner Botschaft noch etwas zu tun haben. Geh zurück – ich möchte mit jemandem reden, ehe …“
Sie gingen zurück. „Hier“, sagte Jesus, mehr oder minder willkürlich. Die Geschichte blieb stehen.
Frankreich und England, zwei christliche Nationen, lagen miteinander im Krieg. Der Mehrheit der Bevölkerung in beiden Ländern ging es immer schlechter. „Wenn ich hier eingreifen und sie aufhalten kann …“ sagte Jesus mit verzweifelter Hoffnung. „Ich kann nicht untätig dabeistehen; irgend etwas muß ich unternehmen.“
„Du kannst aber nichts tun“, wies ihn Bruder Paul zurecht. Er begriff Jesu Schmerz, bezweifelte aber, daß es selbst in einer Animation möglich sein könnte, das
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