Die Visionen von Tarot
lassen.
Nun bewegte sich über den Hang eine buntscheckige Menge auf das Feld zu. Sein Problem war: Wenn er sie nicht fernhalten konnte, würde sie das Feld zertrampeln und die Pflügearbeit von gestern zunichte machen.
Dann hatte er eine Idee. Vielleicht würden ihm einige von ihnen beim Pflügen helfen!
Doch als sie näher kamen, verlor er diese Hoffnung. Die Leute schienen ziellos dahinzutreiben. Einige waren fett, andere kränklich, andere mürrisch; keiner von ihnen sah wie ein zuverlässiger Arbeiter aus.
Aus der anderen Richtung näherte sich aber etwas Vielsprechenderes: ein Pilger in Bauernkleidung mit einem dicken Stab. Wie es in Animationen so geschieht, kam der Pilger gerade in dem Augenblick auf Bruder Pauls Feld an, als die Menschenmenge von der anderen Seite erschien.
„Wo kommst du her?“ rief jemand.
„Aus dem Sinai“, antwortete der Pilger. „Vom Grab unseres Herrn. Ich bin eine Weile in Bethlehem und Babylon und Armenien und Alexandria und vielen anderen Orten gewesen.“
„Kennst du einen Heiligen namens Wahrheit?“ fragte jemand neugierig. „Kannst du uns sagen, wo er lebt?“
Der Pilger schüttelte den Kopf. „Gott helfe mir. Noch nie zuvor hatte mich jemand nach ihm gefragt. Ich weiß es nicht …“
„Ich bin auch auf der Suche nach Wahrheit“, sagte Bruder Paul. „Ich habe vor einem Augenblick diesen Turm gesehen. Ich kann euch den Weg zeigen.“
Zweifelnd sahen sie ihn an. „Du, ein einfacher Bauer? Wer bist du?“
„Ich bin Paul der Pflüger“, antwortete er – und war schockiert über seine Antwort. Nun erkannte er die Szene: sie entstammte der Vision von Piers Plowman, einem epischen Gedicht aus dem fünfzehnten Jahrhundert von William Langland. Und er spielte die Titelrolle!
„Ja, Paul“, sagten die Leute. „Wir bezahlen dich, wenn du uns dorthin führst.“
Aber dort wollte er eigentlich gar nicht hin. Noch nicht. Zuerst mußte er Lee finden. Dann konnte er den Turm suchen, der sich nun hinter Wolken verbarg. Lee war wahrscheinlich in dem Verlies des Bösen, der entsprechenden Version der Hölle.
Aber weil er sich nun einmal in dieser Vision befand, mußte Paul sich auch der Rolle fügen. Aber vielleicht konnte er sie verändern, während er nach einem Weg suchte, wie er Lee befreien konnte.
„Nein, ich nehme kein Geld, keinen Schilling“, sagte er zu ihnen. „Ich werde euch den Weg beschreiben – es ist da drüben im Osten –, aber ich muß hierbleiben und mein Feld pflügen.“
Sie blickten nach Osten. Die Wolken ballten sich zu einem Sturm zusammen. „Wir brauchen einen Führer. Du mußt mit uns kommen.“
„Ich muß noch einen halben Hektar am Hause hacken“, protestierte Bruder Paul in der Stabreimweise des Gedichts. „Aber wenn ihr mir helft, mein Feld für die Saat vorzubereiten, werde ich euch den Weg zeigen.“ Das würde diese Nichtsnutze schon vertreiben!
„Das würde alles viel zu lange verzögern“, protestierte eine junge Dame. Sie trug ein modisches Kleid und einen Hut mit einem Schleier. Amaranth natürlich. Und der Pilger war Therion. „Und was würden wir Frauen tun, während ihr arbeitet?“
Das war eine Herausforderung! Offensichtlich hatte sich die Lady nur selten die Hände mit gewöhnlicher Arbeit schmutzig gemacht! „Einige könnten den Sack stopfen, damit die Saat nicht herausfällt“, sagte er zu ihr. „Ihr schönen Damen mit euren feinen Fingern …“
„Christus, das ist eine gute Idee“, stimmte ein Ritter zu – eine weitere Rolle Therions. „Dabei helfe ich auch! Aber mir hat noch nie jemand gezeigt, wie man ein Gespann antreibt!“
Dann wollten sich alle beteiligen. Es schien, als sei die Arbeit des Pflügers bald getan. Was eigentlich nicht dem entsprach, was er wollte. Nun, jetzt saß er
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