Die Visionen von Tarot
Mittdreißigern war. Das Alter war schwer zu bestimmen, weil er frühzeitig gealtert und kleiner geworden zu sein schien. Er wirkte ausgemergelt. Haare und Bart waren rasiert, und er trug Lumpen. Er wandte die Augen nicht ab, als Bruder Paul näher kam.
„Darf ich nähertreten?“ fragte Bruder Paul.
Der kleine Mann machte eine einladende Geste. „Willkommen, Reisender. Es gibt hier Feigen genug, um eine große Menschenmenge zu speisen, und im Fluß gibt es Wasser.“
Bruder Paul setzte sich neben ihn und kreuzte die Beine. Er hob eine Feige auf, wenn der Mann dies tat, und kaute langsam das etwas zähe Fruchtfleisch. „Du bist ein Asket? Ich will mich nicht aufdrängen, wenn du lieber allein sein willst.“
„Ich habe mich mit Asketizismus versucht, bis ich fast aufgezehrt war“, sagte der Mann. „Ich habe aber keine besonderen Erkenntnisse gewonnen. Ich beschloß, daß es nutzlos war, weiterhin zu hungern und mich zu quälen. Dann merkte ich, wenn ich aß und trank und stärker wurde, daß meine Gedanken klarer wurden. Ich merkte, daß die Lehre, die da sagt, daß ein Mensch sich fast zu Tode hungern muß, um in Besitz der Weisheit zu gelangen, falsch ist. Es ist der gesunde Mensch, der am besten in der Lage ist, die Welt wahrzunehmen und über die religiöse Wahrheit nachzudenken.“ Er blickte Bruder Paul an. „Demnach mußt du ein sehr aufmerksamer Mensch sein, denn du bist der gesündeste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?“
„Ich bin Bruder Paul von … einer entfernten Kultur. Und du?“
„Ich bin Siddhattha Gautama, einst ein Prinz, nun ein Bettelmönch.“
Siddhattha Gautama – der Mann, der der Geschichte als Buddha bekannt war, der Erwachte, der Erleuchtete. Der Begründer einer der größten Religionen aller Zeiten, des Buddhismus. Er war wirklich ein Prinz gewesen und hatte seiner Krone freiwillig entsagt, um die Offenbarung zu suchen.
„Ich fühle mich … geehrt, Euch zu treffen“, sagte Bruder Paul demütig. Wenn er sich selbst auch als Christen empfand, so hegte er doch tiefen Respekt vor dem Buddhismus. „Auch ich bin auf der Suche nach der Wahrheit. Ich habe sie noch nicht gefunden.“
„Ich habe sieben Jahre auf die Erleuchtung gewartet“, sagte Siddhattha. „Oftmals war ich in harter Bedrängnis, mit dem Betteln aufzuhören und zu meiner Frau und meinem Sohn zurückzukehren. Aber immer habe ich mir vor Augen gehalten, daß ich in dem Palast niemals wieder glücklich werden würde, solange ich wußte, andere lebten in Elend und Sorge. Aber ich komme der Erkenntnis, wie ich anderen Glück bereiten könne, nicht näher.“
Buddha hatte seine Offenbarung also noch nicht erfahren. „Habt Ihr Lehrer gefragt? Die weisen Männer?“
Siddhattha lächelte nachdenklich. „Ich habe den großen Lehrer Alara aufgesucht. ,Lehre mich die Weisheit der Welt’, habe ich ihn gebeten. Er sagte zu mir: ‚Studiere die Veden, die Heiligen Schriften. In ihnen liegt alle Weisheit.’ Aber ich hatte die Veden bereits studiert und keine Erleuchtung erfahren. Daher wanderte ich weiter, bis ich zu einem anderen großen Lehrer kam, Udaka, und ich bat auch ihn. Er sagte zu mir: ‚Studiere die Veden!’ Aber ich wußte, darin liegt keine Antwort auf die Frage, warum die Brahmanen unter Krankheiten, Alter und Tod leiden. Ich bezweifle auch, ob jemand zur Weisheit gelangt, indem er sich selbst verletzt oder auf spitzen Nägeln sitzt.“
„In meiner Kultur“, stimmte ihm Bruder Paul zu, „sagt man uns das gleiche. ‚Lest die Bibel.’ Doch die Kriege und das Elend der Menschen dauern an, auch unter jenen, die von sich behaupten, die Bibel zu ehren. Ich vermute, die letztendliche Wahrheit finden wir in keinem Buch. Und das Leben ist oftmals
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