Die Visionen von Tarot
ein schwieriger Lehrer.“
„Das stimmt“, meinte Siddhattha nachdenklich. „Als ich noch ein Prinz war, ging ich einmal auf die Jagd. Ich sah einen Mann, der war nur noch Haut und Knochen und wand sich vor Schmerzen auf dem Boden. ‚Warum?’ fragte ich ihn. ‚Alle Leute werden einmal krank’, sagte man mir. Aber ich in meinem beschützten Leben hatte so etwas noch nicht erfahren, und es machte mich sehr traurig. Am nächsten Tag traf ich einen Mann, der war so alt, daß sein Rücken wie ein gespannter Bogen gekrümmt war, und seine Hände zitterten wie Palmwedel im Wind, so daß er auch mit Hilfe zweier Stöcke kaum laufen konnte. ‚Warum?’ fragte ich wiederum. ‚Er ist alt; alle Menschen werden alt’, sagte man mir. Wieder wurde ich traurig, denn ich kannte nur Jugend. Am nächsten Tag sah ich eine Begräbnisprozession und eine Witwe, und mehrere Waisen folgten dem Leichnam. ‚Warum?’ ‚Der Tod trifft jeden.’ Das entsetzte mich, denn ich hatte noch niemals über die Realität des Todes im Menschen nachgedacht. Ich kannte so wenig vom Leben und den Menschen; mein Leben hatte ich mit albernen Vergnügungen verbracht. Warum ging es mir so gut, wo doch die anderen litten? Ich begriff nun, daß ich die Ausnahme war und die große Mehrheit krank und arm. Das erschien mir nicht richtig. Aber noch während ich darüber nachdachte, gab meine schöne Frau eine Gesellschaft mit vielen hübschen Mädchen, die sangen und tanzten, und diese Musik vergrößerte meine Verwirrung nur noch. Als meine Familie dies merkte, nahmen sie an, die Darbietung sei nicht richtig, und man ließ die Mädchen mit derartiger Heftigkeit und Lebhaftigkeit auftreten, daß sie anschließend vor Erschöpfung zusammenbrachen. Wie sich ihre Schönheit gewandelt hatte! Am nächsten Tag ging ich auf den Marktplatz und sah dort unter den Kaufleuten einen alten Mönch in grobem, gelben Gewand, der um Essen bettelte. Wenn er auch alt, krank und arm zu sein schien, so wirkte er doch ruhig und glücklich. Da beschloß ich, so wie er zu werden.“
„Ich glaube, in diesem Augenblick habt Ihr große Erleichterung gefunden“, sagte Bruder Paul. „Vielleicht kann man die letztendliche Wahrheit nur im eigenen Herzen finden.“ Das war ein Quäkerglaube, fiel ihm ein.
Siddhattha wandte sich ihm zu. „Das ist ein sehr reizvoller Gedanke. Ich frage mich, was ich wohl finde, wenn ich einfach unter diesem Baum sitzen bleibe, bis ich in meiner eigenen Seele die Wahrheit herausgelöst habe.“
Der Bambusbaum! Bruder Paul fiel es wieder ein: Er wurde Baum der Weisheit genannt, denn dort hatte Buddha seine heilige Nacht verbracht und die wichtige Erleuchtung erfahren. „Dann lasse ich dich besser allein!“
„Oh nein, mein Freund. Bleib bei mir, und suche nach deiner Wahrheit“, ermutigte ihn Siddhattha.
Nun, warum nicht? Das war vielleicht der direkteste Weg zu seiner Antwort. Der Gott, den Buddha fand – das mußte der Hauptanwärter für das Amt eines Gottes von Tarot sein.
Die Dämmerung kam. Die Sonne ging unter. Aber es war ihnen nicht vergönnt, in Frieden zu meditieren. Eine Gruppe von Leuten näherte sich dem Baum, und es war offensichtlich, daß sie Böses im Schilde führten. Drei waren junge, recht hübsche Frauen, der Rest zerlumpte Grobiane unterschiedlichster Erscheinung.
Bruder Paul sprang auf die Füße und wollte vor den Eindringlingen warnen, aber Siddhattha hielt ihn ab. „Das sind die Kohorten von Mara, dem Bösen, der uns von unserem Vorhaben abbringen will. Sieben Jahre lang ist er mir gefolgt. Aber er kann uns körperlich nichts anhaben, solange wir unter diesem Baum bleiben. Versuche nicht, mit ihm zu kämpfen, denn genau das will er. Es ist nutzlos, dem Bösen mit Bösem zu begegnen.“
Stimmte das? Bruder Paul wich zurück,
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