Die Visionen von Tarot
ungewöhnliche Fall herausgestellt, daß der Campus heutzutage weniger konventionell wirkte, als Paul selbst war, und dadurch wurde ihm ein wenig unbehaglich. Er hatte sich nicht so sehr geändert und war gewiß nicht allgemein konservativer geworden: Aber das College hatte sich auf unerwartete Weise verändert. Das war bestimmt nicht falsch, brachte ihn jedoch aus der Fassung und machte ihn desorientiert. Er schien nun tatteriger, als er eigentlich war.
Dann kam Will Hamlin. Er war älter, grauer geworden, aber man konnte ihn sogleich erkennen, und zwar auf zwei verschiedene Arten. Zum einen spielte Therion seine Rolle. Paul sprang auf, um ihm die Hand zu schütteln. Zu mehr hatten sie auch keine Zeit, denn es war wirklich mitten in einer Rede.
Paul las seinen Vortrag ab und erklärte einige der erstaunlichen Phänomene, in denen sich der Gott von Tarot manifestiert hatte, und dann war endlich die Veranstaltung beendet. Es gab keine besonderen Kommentare – die anderen waren sicherlich ebenso müde wie er auch. Er suchte Carolyn, und zusammen fanden sie den Weg zu ihrem Zimmer. Es war natürlich weit über die Schlafenszeit des kleinen Mädchens hinaus und auch spät für Paul, aber sie ging niemals auch nur eine Sekunde früher ins Bett, als sie mußte, und genoß es sichtlich.
Schade, daß es keine weitere Gelegenheit gegeben hatte, mit Will zu reden, auch nicht in der Ersatzrealität der Animation. Zwanzig Jahre – die Welt hatte sich für sie beide vollständig geändert, doch die Umstände hatten ihnen nur ein bloßes Händeschütteln gewährt. Nicht daß Will in der langen Zwischenzeit häufig Pauls Gedanken beschäftigt gehabt hätte, und sicher war Paul auch niemals ein grundsätzlicher Teil in Wills Gedanken gewesen (für Will waren Grundsätzlichkeiten die wichtigsten Begriffe). Es handelte sich zufällig nur um die Gegenüberstellung von verschiedenen Typen, die die Zeit weit auseinandergetrieben hatte. Vor zwanzig Jahren waren Pauls späterer Erfolg im Leben und Wills weiteres Verbleiben am College gleich unwahrscheinlich gewesen – doch beide hatten sich durchgesetzt, und dies war der Augenblick der gegenseitigen Bestätigung. Die angemessenere Einheit der Denkungsart zeigte sich auch nur selten offen …
„Daddy, lesen wir noch?“
Gewöhnlich lasen sie des Abends, und wenn es auch schon sehr spät war, hielt Paul es für das beste, das Ritual beizubehalten. Er versuchte seiner Tochter dadurch nebenher etwas beizubringen wie auch die Nähe zwischen ihnen beiden noch zu verstärken. Sie war ein sensibles, hyperaktives Kind, und sie brauchte ständig seine unterstützende Gegenwart und nicht die grimmigen Befehle von ständig etwas verbietenden Elternfiguren, eher liebevolle Hilfe, und das war ein Teil davon. Er hatte ihr alle Bücher aus dem Zyklus Zauberer von Oz und eine vollständige Fassung der Bibel in Geschichtenform vorgelesen und begann gerade mit einer unzensierten Neuübersetzung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Folgen würden die Werke von Lewis Carroll und Don Quichote.
Manche hielten dies nicht für die geeignete Lektüre für ein Kind dieses Alters, aber Carolyn war für ihr Alter ungewöhnlich weit. Paul erklärte ihr alles sehr sorgfältig, und beide hatten sie an diesen Lesestunden viel Spaß. Es waren auch alles gute Bücher und einander ähnlicher, als manche Menschen glauben mochten.
„Natürlich, meine Süße.“ In seinem Koffer befand sich das Buch, das er eigens für diesen Zweck eingepackt hatte: ein altes Märchen über einen Drachen, einer Steinstatue, die zum Leben erwacht und ein kleines Mädchen mit auf die
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