Die Visionen von Tarot
dem Band der Unendlichkeit. Daher hatte er sie auch hierhergebracht; sie war ein Teil seiner selbst. Acht Jahre alt, in drei Monaten neun (oh, schon wieder ein Geburtstag!), kostbar über jede Vorstellung hinaus.
Das war etwas, was andere niemals begreifen würden und auch nicht brauchten. Sie dachten, er sei der alte Paul, lediglich zwei Dekaden älter, auch wenn sie das Original nicht gekannt hatten. Aber kannte überhaupt irgend jemand den anderen? Eine philosophische Frage, aber unbeantwortbar.
Er sprach mit jenen anderen und entwickelte die Vorplanung für das Programm. Paul kannte Tarot, ein anderer das I Ging – was irgendwie eine gemeinsame Basis bot. „Ich habe für morgen schon die Schafgarbenstöckchen geworfen“, sagte der andere. „Die Antwort lautete: ‚Das Zentrum ist leer.’“
Paul lachte: „Das kann schon stimmen.“
Nüchtern nickte der Mann. Viele Studenten hatten an dem Programm Interesse gezeigt: „Die Zukunft der Offenbarung“, aber es war unsicher, wieviel davon übrigblieb, wenn es wirklich soweit war. In Pauls Tagen hatte man einige exzellente Kurse aufgeben müssen, weil einfach keine Studenten kamen.
Sie beendeten ihre Mahlzeit und gingen hinauf in den Heuschober-Saal. Sie kamen an der Stelle von Wills altem Büro vorbei, aber das gab es nicht mehr. Zweifelsohne bewohnte Will heute mehr als nur eine kleine Nische, wenn nicht sogar ein Silo. Paul atmete tief ein – und immer noch spürte er einen schwachen Hauch des Gestanks von dem scheußlichen Löwenzahnschnaps. Nach zwanzig Jahren? Unmöglich …
Die Scheune war noch genauso, wie er sich an sie erinnerte. Carolyn war begeistert, rannte über die Bühne und versuchte, sich wie eine Schauspielerin aufzuführen. Hier hatte Paul Kulissen gemalt, hier hatte er gegen das Lampenfieber angekämpft. Öffentlich zu reden war ihm zunächst nicht leicht gefallen. Seine Nachdenklichkeit und seine leise Stimme waren ernsthafte Hinderungsgründe gewesen. Schließlich war in einem Seminar der Leiter der Laienspielgruppe zu ihm durchgedrungen. „Sag es noch einmal, genau so, aber zwei Komma drei mal so laut.“ Paul hatte gehorcht – und es klappte. Niemals wieder hatte er Lampenfieber bekommen. Normalerweise sprach er immer noch leise, aber er kannte nun die Technik der Projektion und setzte sie bewußt ein, wenn es nötig war. Mit diesem Mechanismus bewaffnet, merkte er, daß das Lampenfieber selbst verschwand. Nun konnte er frei vor jedem Publikum reden, und er kam gut an. Zuweilen hatte er sogar auf dem Podium besser gewirkt als im tatsächlichen Leben; in privaten Unterhaltungen konnte er zuweilen unbeholfen sein.
„Wir werden nicht diesen Saal benutzen“, sagte David White. „Wir gehen hinaus auf die Wiese. Da ist es weitaus angenehmer.“ Im übertragenen Sinne: Wir werden nicht genügend Teilnehmer bekommen, um den Saal zu füllen.
Bei Beginn der Abenddämmerung setzten sie sich auf den leicht abfallenden Hügel hinter dem Heuschober-Saal. Carolyn lief davon, um für sich die anderen Teile des Campus zu entdecken. Paul vergewisserte sich, daß sie hier in Sicherheit war – niemand würde sie hier behelligen, und sie wußte, wo sie ihn zu finden hatte. Ein Großteil der Erziehung von Kindern bestand darin, ihnen mehr Zügel zu geben. Sie mußten ihre Grenzen in der ihnen eigenen Weise entdecken.
Die Teilnehmer stellten sich vor, doch die Namen wanderten bei Paul zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Namen und Daten waren noch nie seine Stärke gewesen. Seit er kein Mnem mehr nahm! Während mehr und mehr Leute herbeiströmten, unterhielt man sich. Als ungefähr dreißig zusammengekommen waren,
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