Die Wacholderteufel
nie.
«Und wenn …», er fing an, leise zu schluchzen, und Wencke ahnte, dass er sich deswegen genierte, «… und wenn sie nicht wiederkommt?»
«Wir werden sie finden», sagte Wencke mit festem Blick auf den Jungen.
«Versprochen?», brachte er mühsam hervor.
Was sollte Wencke da antworten? Nein, versprechen kann ich dir das nicht. Es gibt auch Fälle, in denen tauchen Menschen nie wieder auf, oder man findet sie, aber sie sind tot. Nein, das konnte sie ihm unmöglich sagen. Auch wenn es die Wahrheit war.
«Versprochen?», hakte er noch einmal nach.
Ihr gelang ein ernster Blick in seine Augen. «Das verspreche ich dir.» Und dann suchte sie schnell nach einem anderen Thema, lenkte das Gespräch auf den Auftritt am Abend und fragte, ob er Lampenfieber hätte.
Nach ein paar Sekunden reagierte Mattis auf ihre Frage, und nach anfänglichem Zögern war er wahrscheinlich auch froh, an etwas anderes zu denken. Während er sich anzog und wusch, rezitierte er seinen Text. Doch es fiel Wencke schwer, seiner Vorstellung zu folgen. Es war zwar gut, Nina Pelikan – oder Janina Grottenhauer, wie auch immer – in Gegenwart des Jungen weitestgehend auszuklammern.
Doch nichtsdestotrotz: Wenckes Sorge um die Mutter ihres Schützlings steigerte sich von Minute zu Minute. Die zweite Nacht, in der die Frau verschwunden war. Ein Versehen, eine Zerstreutheit war nun so gut wie ausgeschlossen. Und die Gefahr, dass Nina etwas zugestoßen sein musste, nahm stetig zu, parallel zu den Befürchtungen, sie könne bei den winterlichen Temperaturen, sollte sie draußen übernachtet haben, inzwischen handlungsunfähig sein. Die Klinikleitung hatte in der Angelegenheit kein Sterbenswörtchen mehr fallen lassen, weder ihr noch Mattis gegenüber. Die Nachfragen an der Rezeption waren ergebnislos geblieben, Viktoria Meyer zu Jöllenbeck hatte sich verleugnen lassen. Einmal, gestern nach dem Abendessen, war Wencke trotzdem in deren Büro gestürmt. Doch der Schreibtisch war aufgeräumt und der Ledersessel leer gewesen.
Aber Mattis hatte Recht, es war nun höchste Zeit zu handeln. Wencke hatte bereits einige Anwendungen hinter sich gebracht. Mattis war in der Schule mit Theaterproben beschäftigt. Bis zum Mittagessen blieb noch genügend Zeit, sich mit dem Leihfahrrad aufzumachen in Richtung Bad Meinberg City, wo sie den netten Polizeibeamten besuchen wollte.
Die Tür zum kleinen Bungalow, in dem die Wache untergebracht war, war verschlossen, an der Glastür klebte ein Zettel «Bin gleich zurück». Ein nettes Bild, dachte Wencke und vermutete, dass in diesem Ort jeder den Ordnungshüter persönlich kannte und achtete.
Die Müdigkeit machte ihr zu schaffen, und der immer noch nervende Nieselregen ließ ein paar Minuten Wartezeit an der frischen Luft wenig verlockend erscheinen. Gegenüber war eine Bäckerei mit angrenzendem Café. Die Lust auf Koffein und einen trockenen Sitzplatz ließ sie das Fahrrad in den Ständer stellen und über den kleinen gepflasterten Platz gehen. Sie bestellte am Tresen ein Puddingteilchen und einen Cappuccino, dann setzte sie sich in den Caféraum, der mit grünem Teppich, grünen Polstern und ebenso grünen Tapeten ausgestattet war. Nur die Stühle und Tische waren braun. Am Kopfende war eine Bühne aufgebaut, ein Bergpanorama auf der Rückwand gab eine volkstümliche Kulisse. «Der singende Bäcker» verkündeten einige Plakate, auf denen ein bärtiger Mann abgebildet war. Eine gemütliche Frau kam herein, stellte das Bestellte auf das gold umhäkelte Deckchen und folgte Wenckes Blick Richtung Poster.
«Das ist mein Chef», verriet sie. «Er wollte immer Sänger werden, musste aber die Bäckerei seines Vaters übernehmen. Da hat er das eine mit dem anderen verbunden. Einmal die Woche tritt er hier auf. Die Veranstaltungen sind immer gut besucht.»
Wencke nickte anerkennend.
«Und Sie sind hier in Kur?», fragte die Angestellte des singenden Bäckers und gab sich sogleich selbst die Antwort: «In der
Sazellum -Klinik
wahrscheinlich, wenn ich mir Ihren Bauch so anschaue.»
«Köstlich», befand Wencke das Puddingteilchen.
«Nicht wahr? Ich weiß auch nicht, was mein Chef besserkann: Singen oder Backen.» Nun schob die Bedienung ihren beachtlichen Hintern auf einen der Nebentische und verschränkte die Arme. «Aber hören Sie, wenn Sie dort in dem Haus sind, dann kennen Sie doch auch die Janina Grottenhauer, oder?»
Wencke verschluckte sich an einem Gebäckkrümel. Die Frau schlug ihr beherzt
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