Die Waechter von Marstrand
schüttetesie das Gesöff in einem unbeobachteten Moment zwischen die Bodenbretter. Sie brauchte einen klaren Kopf. Das Essen kam. Agnes dolmetschte zwischen den beiden Kaufmännern hin und her, bis sie sich nach einer Weile an sie wandten.
»Was führt Sie denn nach Marstrand?«, fragte Kaufmann Widell.
»Ich suche Arbeit.«
Angesichts ihrer kurzen Antwort sah Widell sie fragend an, doch sie wich seinem Blick aus. Sie wollte so wenig wie möglich sagen. Auch der Holländer machte ein neugieriges Gesicht. Agnes übersetzte ihm die Frage und ihre Antwort.
»Wie kommt es, dass Sie Holländisch sprechen?«, fragte der Mann schließlich.
»Mijn Oma komt von Holland.«
»Holländische Verwandte?«
»Ja, meine Großmutter.«
»Ein Mann wie Sie würde mir in meinem Geschäft gute Dienste leisten«, sagte Kaufmann Widell. »Hätten Sie Interesse?«
Agnes nickte. Sie verabredeten sich zu einem Gespräch am nächsten Morgen.
Als der Abend sich dem Ende neigte, war die Stimmung ausgelassen. Auf wackligen Beinen ging Agnes die steile Treppe hinauf. Allmählich fiel die Anspannung von ihr ab, und sie hätte vor Erleichterung weinen mögen. Die Flüche hinter den geschlossenen Türen und die Wanzen machten ihr nicht mehr so viel aus wie am Abend zuvor. Sie war satt, und sie hatte nach langer Zeit endlich wieder Holländisch gesprochen. Vielleicht würde sie bei Kaufmann Widell Arbeit finden. Gott sei Dank hatte er die Rechnung übernommen. Aus Sicherheitsgründen schob sie das Bett vor die Tür, wo es auch nicht so zog wie an der Wand mit dem Feuchtigkeitsschaden. Bevorsie die Stiefel auszog und sich auf der harten Matratze zusammenrollte, versteckte sie ihre Geldbörse unterm Kopfkissen. Schließlich breitete sie Vaters Mantel unter sich aus. Sie schloss die Augen und versuchte, an die Matratze, die spitzenbesetzte Bettwäsche und die warmen Daunenfedern zu Hause auf Näverkärr zu denken. Und an Großmutter. Was würde ihre geliebte Großmutter wohl sagen, wenn sie Agnes jetzt sehen könnte? Sie löschte die Tranlampe und flüsterte ins Dunkle.
»Jij had gelijk Oma, waarschijnlijk komt alles toch wel goed.«
Vielleicht würde doch noch alles gut werden.
4
Breitbeinig und über das ganze Gesicht strahlend stand Karin da und sah zu, wie sich der Spinnaker im Wind blähte. Das leuchtende Segel erinnerte an einen großen Ballon. Für den schweren Stahlrumpf der Andante waren sieben Knoten nicht übel. Bei diesem Tempo würden sie in vier Stunden zurück in Marstrand sein, aber noch war der Leuchtturm von Skagen in weiter Ferne.
Mit einem Teller in der einen Hand und einem Tuborg in der anderen kam Johan aus der Pantry.
»Wenn es der Dame recht ist, serviert das Haus einen Heringsteller.«
»Oh, wie lecker. Ich glaube allerdings, wir müssen nacheinander essen. Einer von uns muss auf den Spinnaker aufpassen.«
Johan stellte den Teller und die beschlagene Bierflasche auf der Teakholzbank ab und kam zu Karin nach hinten. »Fang an zu essen, ich übernehme das Segeln. Du bekommst immer als Erste Hunger.« Er legte die Hand auf die Ruderpinne. Karin überließ sie ihm lächelnd.
»Danke, ich bin wahnsinnig hungrig.«
Sie setzte sich auf eins der blauen Kissen, lehnte sich an und balancierte den Teller auf ihrem Schoß. Das Bierwar eiskalt. Saure Sahne, rote Zwiebeln und vier Sorten Hering. Ein lauwarmes Stück Svecia, zwei halbe Eier und neue Kartoffeln. Johan hatte ihr beigebracht, Käse zum Hering zu essen, es intensivierte wirklich den Geschmack. Sie beobachtete ihn. Das blonde Haar wehte im Wind, und sein Oberkörper, der unter der Schwimmweste hervorblitzte, war leicht gebräunt. Der ganze Sommer lag vor ihnen. Am Wochenende hatten sie einen gelungenen Ausflug nach Skagen unternommen. Schönes Wetter, ein Besuch im Krøyermuseum und kaum Boote im Hafen. Ich habe Glück gehabt, dachte sie. Dass ich jemanden gefunden habe, der mich versteht und dieselben Dinge schätzt wie ich. Und der es nicht seltsam findet, dass ich an Bord wohne. Wenn sie es sich genau überlegte, war Johan der einzige, der nichts dazu gesagt hatte.
Nach der Trennung von ihrem früheren Lebensgefährten Göran hatte sie sich entschieden, eine Weile allein zu leben, aber dann war Johan aufgetaucht. Auch wenn sie meistens zusammen waren, hatten bislang beide ihre Wohnung behalten. Er wohnte in der Prinsgata in Göteborg und sie auf der Andante . Karin nahm einen tiefen Zug aus der Bierflasche und schluckte den letzten Bissen hinunter. Da sie vor
Weitere Kostenlose Bücher