Die Wahrheit über Marie - Roman
schmale Vordach des Hangars, draußen im Dunkeln goss es weiter in Strömen, bei Windböen fegte die dichte Regenwand fast horizontal heran. Den zwei Japanern war es zwischenzeitlich gelungen, wieder die Kontrolle über das Pferd zu erlangen, sie hatten es gedreht, hielten es fest an der Schnalle des Halfters, sie mussten wieder von vorn beginnen, um das Pferd in den Container zu verfrachten, umrundeten sie in weitem Sicherheitsabstand die geparkten Fahrzeuge. In der Ferne grollte der Donner, hin und wieder zeriss ein Blitz den Himmel über den unsichtbaren Start- und Landebahnen. Das Pferd bewegte sich jetzt im Schritt in sicherer Entfernung von den Lichtern der Lagerhäuser auf dem dunklen, regennassen Parkplatz, eskortiert von den beiden Japanern, die an seiner Seite in ihren regentriefenden blauen Blazern durch das Dunkel liefen. Scheinbar gefügig ließ sich das Pferd von ihnen führen, wurde gelegentlich von einem plötzlichen und unvorhersehbaren Aufbäumen des Kopfes geschüttelt. Sie hatten den Anhänger schon fast erreicht, als das Vollblut sich angesichts der Pferdebox versteifte und mit angelegten Ohren und laut wiehernd abdrehte, mit aufgerissenem Maul biss es um sich, die Zähne plötzlich gebleckt, dann setzte es zurück und jagte davon, die beiden Japaner in seinem Gefolge wirbelten hinter ihm her.
Das Vollblut war entwischt, in die Dunkelheit entkommen, zunächst noch gehindert von einem der beiden Japaner, der die Leine nicht gleich losgelassen hatte, nicht den Eindruck machte, sie jemals loslassen zu wollen, als hätte er sie um seinen Arm oder sein Handgelenk gebunden. Er konnte sie nicht mehr loslassen, er durfte es sich nicht einmal vorstellen, er fand es schlicht unvorstellbar, jetzt loszulassen und dieses Pferd entkommen zu lassen, für das er die Verantwortung trug, verzweifelt klammerte er sich an die Leine, fiel vornüber, schon am Boden, kam wieder auf die Knie, richtete sich auf, zog an der Leine, versuchte, sie um seine Taille zu wickeln, hielt mit aller Kraft dagegen, wurde aber sofort wieder umgerissen und auf den Asphalt geschleudert, ließ immer noch nicht die Leine los, wurde bäuchlings in die Wasserlachen geschleudert, bis sein Blut spritzte, es war ein schrecklicher Anblick, wie ein aus dem Gleichgewicht geratener Wasserskifahrer, er konnte sich nicht mehr aufrichten, wurde nur noch hin und her geschleudert, hochgewirbelt und wieder auf den Boden geschmettert, und erst nachdem der Japaner so noch Dutzende Meter weiter mitgeschleift worden war, ließ er endlich das Pferd laufen. Zahir entwich im Galopp in die Dunkelheit, frei und unbändig, war schon so weit entfernt, dass er kaum noch zu erkennen war. Instinktiv war er in die dunkelsten Regionen des Flughafens geflüchtet, hatte den weitläufigen Parkplatz hinter sich gelassen, die schwach beleuchtete Zufahrt überquert und war in Richtung der Start- und Landebahnen auf und davon galoppiert. Mehrere der Anwesenden hatten den Ernst der Lage sofort erkannt, und während die einen den zwei verletzten Japanern zur Hilfe eilten – einer der beiden hatte sich schon wieder aufgerichtet und humpelte im Scheinwerferlicht den zu Hilfe Kommenden entgegen, der andere lag noch immer reglos auf dem Asphalt, er hatte wohl das Bewusstsein verloren, mit blutüberströmtem Gesicht lag er in einer schwarz glänzenden Wasserlache –, hatten die anderen mit ihren Telefonen und Funkgeräten sofort die zuständigen Flughafenbehörden alarmiert, man rannte, stieg in die Wagen, Türen schlugen, man nahm die Verfolgung auf, die Wagen rangierten zuerst im Rückwärtsgang, fuhren dann mit quietschenden Reifen los, der Fahrer des Pferdetransporters – der Van war eindeutig zu schwer für die Verfolgung – hatte sich zu den anderen in den Minibus gesetzt, mit seiner Ausrüstung und einem Seil, ein zusammengerolltes dickes Hanfseil, das er wie ein Lasso in den Händen hielt, drei Fahrzeuge machten sich in der Nacht an die Verfolgung des Pferdes und rasten über den riesigen Parkplatz vor dem Hangar, fuhren im Zickzack mit leuchtenden Scheinwerfern durch strömenden Regen und Wasserlachen, gerieten fast aneinander, der Frachtmanager der Lufthansa am Steuer seines kleinen Karrens, Marie allein in der von dem weiß behandschuhten Chauffeur gesteuerten Limousine und die anderen, alle anderen – Jean-Christophe de G. eingeschlossen, der die Verfolgung selbst in die Hand genommen hatte und die Befehle gab –, die Gehilfen wie die Leibwächter, der Fahrer des
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