Die Wahrheit über Marie - Roman
Jean-Christophe de G. auf es zu, allein und mit bloßen Händen. Das Pferd rührte sich nicht, blickte auf. Jean-Christophe de G. näherte sich ihm im Regen in seinem eleganten dunklen Mantel, mit leeren Händen, nichts, mit dem er es hätte bändigen können, kein Seil, keine Leine, kein Riemen, nichts, um es einzufangen, festzuhalten oder festzubinden. Ruhig, sagte er, ruhig, Zahir, ruhig, wiederholte er mit leiser Stimme. Er war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, von dem Pferd gingen noch immer unheimliche Wellen aus, eine unberechenbare Energie des verängstigten Tieres. Das Pferd beobachtete weiter, wie er sich näherte, bewegungslos, gab heisere und beunruhigende Geräusche von sich. Sein Fell war nass und verklebt von Regen und schmutzigem Schweiß, überkrustet mit winzigen Schlammspritzern, Dreck, Splitt und Asphaltabrieb. Es musste einige Male ausgerutscht sein auf dem Rollfeld, denn es war verletzt, sein Vorderlauf war offen, aufgeschürft und schwärzlich. Jean-Christophe de G. war nun fast bei ihm, langsam ging er weiter auf es zu, ließ es nicht aus den Augen und zeigte ihm seine Hände, die weiß, leer und geöffnet waren, wie um ihm zu beweisen, dass er keine Waffe, nicht einmal eine Fessel oder einen Strick mit sich führte, mit leeren Händen, mit intensivem Blick und leerer Hand – Hand und Blick –, und nicht zu vergessen die Stimme, die warme menschliche Stimme, einschmeichelnd, sinnlich, verführerisch, die er modulierte, deren Betonung er variierte, um es zu besänftigen. Ruhig, sagte er, ruhig, Zahir, ruhig, wiederholte er. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von seinem Fell, aber er berührte es nicht sofort, ließ das Pferd zuerst seine Hände betrachten, seine zwei langgewachsenen, weißen, ruhigen Hände, die er vor die Augen des Pferdes hielt, um dem Vollblut alle Zeit zu lassen, sie zu beobachten, zu beriechen und daran zu schnuppern, und das Pferd beobachtete seine Hände, schnupperte daran, stieß mit feuchten Nüstern gegen die Finger, nahm fügsam und vorsichtig Witterung auf, vielleicht erkannte es einen bestimmten Geruch wieder, vielleicht war ihm der Geruch Jean-Christophe de G.s vertraut. Es zuckte nicht einmal, als Jean-Christophe de G. die Hand auf sein Fell legte und es berührte, es langsam und vorsichtig streichelte, so, als würde er eine Frau streicheln, als führe seine Hand langsam über den Körper einer Frau. Das Pferd ließ es geschehen, es schien es zu mögen, von seinen gleichzeitig festen und zärtlichen Händen berührt zu werden, die ihm ein Gefühl von Wärme vermittelten, ein Empfinden von Frieden und Ruhe nach den bestürzenden und erschreckenden Augenblicken, die es gerade durchlebt hatte. Jean-Christophe de G. hatte seinen Kopf an die Wange des Pferdes gelegt und flüsterte ihm ins Ohr, er beschwichtigte es mit leiser und verführerischerer Stimme, tätschelte ihm den Kopf und strich über die Außenlinie seiner Augen. So, sagte er, so, sehr gut, Zahir, sehr gut. Er sprach Französisch mit ihm, er hatte immer Französisch mit seinen Pferden gesprochen, Französisch, die Sprache der Liebe – und auch zuweilen der Hinterlist, ihr vergifteter Schatten. Denn die Zärtlichkeiten von Jean-Christophe de G. waren nicht ehrlich gemeint, zumindest nicht ohne Hintergedanken, seine Kunst, durch Worte zu überzeugen, und die gespielte Sanftheit seiner Hände waren wohlkalkuliert, schon dachte er an den nächsten Schritt, bereitete bereits, während er es noch streichelte, den üblen Trick vor, mit dem er es jetzt gleich hereinlegen würde, aber anders hätte er nicht vorgehen können, wäre ihm die Aktion nicht mit solcher Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Grazie gelungen, hätte er sie nicht von Anfang an in Gedanken durchgespielt, wie ein Zauberkunststück oder einen Taschenspielertrick, wie ein Stierkämpfer seine Veronika: Mit einer einzigen Bewegung riss er sich seinen Schal vom Hals, schwang ihn in die Höhe – für einen kurzen Moment schwebte der schwarzmoirierte, rötlich schimmernde Stoff senkrecht in der Nacht –, dann schlang er ihn schnell um den Kopf des Pferdes und band ihn über die Augen Zahirs, er verband ihm die Augen, um ihn blind zu machen. Er zog den Schal gründlich fest, damit wie beim Blindekuh-Spiel kein Licht eindringen konnte, und knotete beide Enden an die Backenriemen des Halfters. Das Pferd machte einen Schritt rückwärts gegen den Zaun, blieb dort mit verbundenen Augen stehen, blind und besiegt. Sofort kam aus dem Kreis
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