Die Wahrheit über Marie - Roman
der sprachlosen Zuschauer, die atemlos das Geschehen verfolgt hatten, der Fahrer des Pferdetransporters mit dem langen, wie ein Lasso zusammengerollten Hanfseil gelaufen, kniete sich vor das Pferd und schlang das Seil um einen der Vorderläufe, verknotete es und zog dann fest an dem Seil, zwang das Pferd, seinen Lauf in Kniehöhe abgewinkelt zu halten. Dergestalt durch das Seil gefesselt, auf der Stelle schwankend und völlig blind, leistete Zahir keinen Widerstand mehr. Erst jetzt hob Jean-Christophe de G. die auf dem Boden liegende Leine auf und kam in aller Ruhe zu den Fahrzeugen zurück, Zahir an der Leine hinter ihm, wie ein großer, disproportionierter schwarzer Hund (brav auf drei Beinen hinkend, mit verbundenen Augen).
Als Jean-Christophe de G. und Marie einige Minuten später mit der Limousine zum Hangar der Frachtabfertigung des Narita Airports kamen, herrschte dort größtes Durcheinander. Blaulichter drehten sich vor dem Block F in der Nacht, Dutzende von Feuerwehrmännern drängten sich vor dem Eingang des Hangars. Polizisten mit reflektierenden Schutzwesten hatten mit leuchtend roten Kegeln eine Absperrung auf dem Parkplatz errichtet. Sie sahen gerade noch, wie sich der Krankenwagen entfernte, der den verletzten Japaner abtransportierte. Marie saß schweigend in der Limousine und beobachtete das Gesicht Jean-Christophe de G.s neben sich im Halbdunkel des Wagens. Sie hatte soeben eine unbekannte Eigenschaft an ihm entdeckt. Sie war verblüfft über die Art und Weise, wie er sich bei der Verfolgung des Pferdes durchgesetzt hatte, wie er die Dinge in die Hand genommen und jedem Befehle gegeben hatte, auch ihr, was sie außerordentlich beeindruckt hatte (weil man Marie keine Befehle gab – bestenfalls gab man ihr Anregungen, schlimmstenfalls legte man ihr etwas nahe).
Als sie aus der Limousine ausstiegen, fanden sie niemanden, der ihnen hätte weiterhelfen können, kein Flughafenpersonal war zur Stelle, das sie zu ihrem Flugzeug hätte begleiten können. Der Frachtmanager der Lufthansa war bei dem Pferd geblieben, hatte per Funk den Reisecontainer zu dem Platz beordert, an dem Zahir eingefangen worden war, um dort die Verladung vorzunehmen. Es verging einige Zeit, bis ein geisterhaft lichtloser Shuttlebus des Flughafens vor dem Hangar auftauchte, der sie zum Flugzeug bringen sollte. Sie verstauten das Gepäck, luden Maries Sachen ins Innere des kleinen Busses. Sie liefen im Regen hin und her, beladen mit Taschen und Koffern, die sie wild durcheinander auf dem genoppten schwarzen Gummiboden des Busses stapelten. Der Bus setzte sich in Bewegung, reglos und ohne ein Wort zu wechseln saßen sie im Halbdunkel inmitten des chaotischen Gepäckhaufens von Marie. Draußen goss es in Strömen, man sah durch die triefend nassen Seitenfenster auf die dunklen Start- und Landebahnen, einige verschwanden gänzlich in der totalen Finsternis, andere wurden von einer rot-weiß blinkenden Lichterkette befeuert. Sie folgten einer schlecht beleuchteten Trasse immer weiter geradeaus ins Dunkel hinein. Einige Minuten noch fuhr der Zubringer durch die Dunkelheit, bevor er anhielt und die automatischen Türen vor ihnen sich sprunghaft in die windige Nacht öffneten, sie beeilten sich, ihr Gepäck auszuladen. Kaum war die letzte Tasche auf das Rollfeld gestellt, ließ der Fahrer, der sie im Rückspiegel mit gehobenen Augenbrauen belauert hatte, vor ihrer Nase die automatischen Türen des Busses zufallen, und der Shuttle startete in die Nacht, ließ sie allein auf dem Asphalt des Rollfelds stehen.
Vor ihnen ragte der gewaltige, gewölbte, überdimensionierte Rumpf einer Boeing 747 der Lufthansa Cargo auf. Es gab keine Treppe, mit der man an Bord hätte gelangen können, keine Leiter, um nach oben zu steigen, alle Zugänge waren hermetisch verschlossen und verriegelt, sowohl die Tür im Bug als auch die hinteren Frachtluken. Der weiß lackierte Rumpf troff im strömenden Regen. Seitdem der Bus sie auf dem Rollfeld zurückgelassen hatte, hatten sie sich keinen Schritt weit bewegt, derart waren sie beeindruckt von den übergroßen Ausmaßen der Maschine, die sich vor ihnen erhob, gut zehn Meter hoch und sechzig Meter lang, eine königliche Statur mit zwei riesigen Tragflächen, die schwarze Schatten auf den Boden warfen. Anhaltendes Brummen elektrischer Aggregate mischte sich mit dem durchdringenden Lärm einer Turbine an der Heckflosse. Das Flugzeug schien bereit, seine Parkposition zu verlassen. Die verschiedenen Rollen und
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