Die Wahrheit
als gehöre ihnen dies alles, als gehöre Rufus ihnen. Rufus kannte sie alle vom Sehen - bis auf einen. Er hatte damit gerechnet, daß sie wieder die Schlagstöcke hervorholten, daß er wieder die brutalen Schläge an den Rippen, am Gesäß, an den Unterarmen zu spüren bekam. Das war zu einem Ritual geworden, das jeden Abend und jeden Morgen stattfand. Während Rufus die Schläge stumm erduldete, rief er sich einen Bibelspruch in Erinnerung, und sein Glaube ließ ihn die körperlichen Qualen leichter ertragen.
Dann hielt man ihm eine Pistole an den Kopf. Befahl ihm, sich auf den Boden zu knien und die Augen zu schließen. Und da passierte es. Rufus erinnerte sich an das Erstaunen, den Schock, den er verspürt hatte, als er zu der grinsenden, triumphierenden Gruppe hinaufstarrte. Das Lächeln war längst von ihren Zügen verschwunden, als Harms sich einige Minuten später erhob, die Männer abschüttelte, als wären sie gewichtslos, seine Zellentür aufbrach, den diensthabenden Wächter zur Seite stieß, aus dem Bau stürmte und Amok lief.
Rufus blinzelte und befand sich wieder in der Krankenstation, starrte die Gesichter an, die Körper, die ihn auf das Bett drückten. Er sah die Nadel, die sich seinem Unterarm näherte. Er schaute auf, als einziger in diesem Augenblick. Und da sah er die zweite Nadel, die im Infusionsbeutel steckte, und die Flüssigkeit aus der Injektionsspritze, die in die Lidocainlösung floß.
Vic Tremaine war seine Aufgabe ruhig und geschickt angegangen, als würde er keinen Mord begehen, sondern Blumen gießen. Er schaute sein Opfer nicht mal an. Rufus riß den Kopf herum und nach hinten und starrte auf die Injektionsnadel, die der Arzt hielt. Gleich würde sie seine Haut durchdringen, das Gift in seinen Körper strömen lassen, mit dem Tremaine ihn töten wollte. Sie hatten ihm schon sein halbes Leben genommen. Er würde nicht zulassen, daß sie ihm auch den Rest nahmen. Noch nicht.
Rufus wählte den Zeitpunkt, so gut und so genau er konnte.
»Scheiße!« rief der Arzt, als Rufus die Fesseln sprengte. Er riß die Arme zur Seite. Das Infusionsgestell krachte zusammen; der Beutel fiel zu Boden und platzte. Ein entsetzter Tremaine sprang zurück, um aus der Krankenstation zu flüchten.
Plötzlich spannte sich Rufus’ Brust, und er bekam kaum noch Luft. Als der Arzt sich wieder gefaßt hatte, schaute er Rufus an. Der Häftling lag jetzt so ruhig da, daß Tremaine auf den Monitor blicken mußte, um sich davon zu überzeugen, daß er
noch lebte.
»So viele extreme Einwirkungen kann niemand durchstehen«, sagte Tremaine, während er die Lebenszeichen betrachtete, die auf ein gefährlich niedriges Niveau abgesunken waren. »Er könnte ins Koma fallen.« Tremaine wandte sich an eine Krankenschwester. »Fordern Sie einen Medi-Vac-Hubschrauber an.« Er schaute den ranghöchsten Wächter an. »Für eine derartige Situation sind wir hier nicht ausgerüstet. Wir stabilisieren seine Körperfunktionen und fliegen ihn dann ins Krankenhaus von Roanoke. Aber wir müssen uns beeilen. Sie möchten bestimmt, daß ein Wächter ihn begleitet.«
Der Mann rieb sein geprelltes Kinn und starrte auf den vollkommen ruhig liegenden Rufus. »Ich würde ein ganzes Dutzend Leute mitschicken, wenn ich sie nur in den verdammten Hubschrauber reinbekäme.«
KAPITEL 14
Von einem bewaffneten Wächter begleitet, ging Michael Fiske auf wackligen Beinen den Gang entlang. An dessen Ende wartete der uniformierte Offizier, dessen Fragen er zuvor beantwortet hatte. Michael sah, daß der Mann zwei Schriftstücke in die Höhe hielt.
»Mr. Fiske, als wir vorhin miteinander sprachen, habe ich mich nicht vorgestellt. Ich bin Colonel Frank Rayfield, der befehlshabende Offizier dieses Stützpunkts.«
Michael fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Frank Rayfield war einer der Männer, die Rufus in seinem Berufungsantrag aufgeführt hatte. Damals hatte der Name keine Bedeutung für Michael gehabt. Doch innerhalb dieses Gefängnisses konnte es bedeuten, daß er, Michael, sterben würde. Wer hätte sich schon vorstellen können, daß zwei der Männer, die Rufus in seinem Antrag praktisch des Mordes beschuldigte, ausgerechnet in diesem Stützpunkt stationiert waren? Doch wenn Michael nun darüber nachdachte . hier war der ideale Platz für diese Männer, Rufus Harms genauestens unter Beobachtung zu halten.
Michael konzentrierte sich wieder auf Rayfield. Er fragte sich, wie man seine Leiche beseitigen würde. Wie früher als Kind,
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