Die Wall Street ist auch nur eine Straße
Fläche betrug wenig mehr als 100 Quadratmeter, und nur ein einziger Bediensteter war anwesend. Wenn man Aktien kaufen wollte, ging man zu diesem Angestellten und bezahlte die Aktien in bar. Es handelte sich im wahrsten Sinn des Wortes um Over-the-Counter-Aktien. Der Angestellte berechnete die Transaktion mit einem Abakus. Ich kaufte Aktien einer Bank – damals waren nur wenige Aktien börsennotiert – mehr wegen ihres historischen als wegen ihres inneren Werts. In dem Dokumentarfilm, den PBS damals drehte, prophezeite ich Großes für China. »Hier entsteht Geschichte«, erklärte ich, als ich meine Aktien kaufte. »Eines Tages werde ich viel Geld in China investieren. Vor der Revolution hatte China den größten Aktienmarkt des Fernen Ostens, und wenn ich recht behalte, wird das eines Tages wieder so sein.«
In Schanghai bezogen wir eine Wohnung mit allem Service, ähnlich wie in einem Hotel. Diese Appartements sind auf vorübergehende, aber längere Aufenthalte ausgerichtet, vollständig ausgestattet und beinhalten sämtliche Dienstleistungen; ein Arrangement, das vor allem von Unternehmen für ihre Angestellten genutzt wird, die für längere Zeit im Land bleiben. Man kann einfach hineingehen, das Licht einschalten, den Computer einstecken und ist daheim. An Schanghai gefiel uns alles, mit einer Ausnahme: die fürchterliche Luftverschmutzung. Vor unserer Rückkehr nach New York beschlossen wir, für drei Wochen eine ähnliche Wohnung in Singapur zu beziehen.
Im nächsten Sommer, 2006, fuhren wir noch einmal dorthin, wobei wir dieses Mal auch Hongkong in unseren Reiseplan aufnahmen. Auch in Hongkong herrschte eine ziemlich üble Umweltverschmutzung. 2007 waren diese Reisen schon zu unserem jährlichen Ritual geworden. Nachdem wir alle drei Städte noch einmal besucht, uns zudem in Peking und anderen chinesischen Städten aufgehalten hatten, trafen wir die Entscheidung, uns dauerhaft in Singapur niederzulassen. Zwar hätte schon die Qualität der Luft ausgereicht, um die chinesischen Städte von der Kandidatenliste zu streichen, aber es gab auch noch andere Faktoren. Im Prinzip ist Singapur eine chinesische Stadt, denn 75 Prozent der Einwohner sind Chinesen, aber im Gegensatz zu Schanghai ist Englisch in Singapur eine Amtssprache – die Amtssprache der Regierung und im Geschäftsleben. Auf das Risiko hin, diese Tatsache zu sehr zu betonen, möchte ich Sie doch darauf hinweisen, dass ich, im Gegensatz zu meinen Töchtern, kein Mandarin spreche. Gegen Hongkong, das wie Schanghai eine lebhafte und aufregende Stadt ist, entschieden wir uns unter anderem deshalb, weil dort hauptsächlich der kantonesische Dialekt gesprochen wird, der als Umgangssprache in China allmählich von Mandarin abgelöst wird.
Also war Singapur der richtige Ort für uns.
2001, auf unserer Weltreise, hörten wir im Botanischen Garten ein Konzert des singapurischen Symphonieorchesters und staunten darüber, dass überhaupt keine Polizisten zu sehen waren. Kein einziger. Damals fiel mir ein, dass man für ein ähnliches Ereignis im New Yorker Central Park eine kleine Polizeibrigade gebraucht hätte, und ich weiß noch, wie ich zu Paige sagte: »Das wäre ein perfekter Ort für Kinder.«
Und es gab noch weitere Argumente für Singapur. Das Bildungssystem ist wahrscheinlich das beste der Welt, das Gesundheitssystem gehört ebenfalls zu den besten und wirklich alles in Singapur funktioniert. Und es funktioniert gut. Das ist nicht überall in Asien so. (Paige und ich haben eine Vereinbarung geschlossen: Wenn jemand von uns oder eines der Kinder medizinische oder zahnmedizinische Versorgung braucht, dann werden wir, egal wo auf der Welt wir gerade sind, den nächsten Flug nach Singapur buchen, weil die dortige medizinische Versorgung unübertroffen ist.) Wir bewarben uns um den Status von Permanent Residents (PRs) und erhielten ihn auch. Wir können kommen und gehen, wann wir wollen, und die Mädchen an öffentlichen Schulen anmelden.
Nachdem wir uns in Singapur niedergelassen hatten, besuchten wir eine Schule nach der anderen und baten die Einheimischen, uns die »chinesischste« Schule zu empfehlen. Wir hatten erwartet, einen zu 100 Prozent chinesischen Lehrplan zu finden, ehe wir erfuhren, dass jede Grundschule in Singapur zweisprachig ist. Die wichtigste Sprache in der Schule ist Englisch, aber jedes Kind wird zudem in seiner Muttersprache unterrichtet. Die zweite Sprache kann Tamil, Malaiisch oder Mandarin sein, aber jedes Kind muss bis
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