Die Washington-Akte
einer der anderen Beamten. »Wo haben Sie denn den Namen her?«
Der Lärm eines Motorrads wurde lauter, als sich zwanzig Meter links von ihm eine Glastür öffnete.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Malone, der draußen Cassiopeia auf ihrem Motorrad erblickte.
Er lächelte.
Man musste sie einfach lieben.
Cassiopeia jagte den 65-PS-Motor hoch und bemerkte im Rückspiegel, dass der Polizist hinter ihr noch immer mehr mit ihrem Hintern als mit der Frage beschäftigt war, wohin sie fahren wollte. Eindeutig beachtete er den Parkwächter gar nicht, der zehn Meter entfernt stand und ihr die Tür aufhielt.
Sie riss den Lenker nach rechts, legte den ersten Gang ein und gab Vollgas. Mit durchdrehenden Reifen schwenkte sie nach rechts herum, richtete das Motorrad geradeaus und schoss durch die offene Tür in die Lobby.
Knox stand vor den Mitgliedern der vier Crews, die sich um Punkt sieben Uhr auf dem Vorplatz des Gefängnisses versammelt hatten. Zweihundertvier der zweihundertvierzehn Mitarbeiter waren anwesend; die Fehlenden waren nur deshalb entschuldigt, weil sie sich nicht in der Stadt befanden. Eine Regel war klar: Einen Versammlungsbefehl konnte man nicht übergehen.
Da keines von Hales drei Kindern auf dem Landsitz weilte, konnte die Versammlung geheim abgehalten werden. Das Zufahrtstor war verschlossen worden und wurde per Kamera von Mitarbeitern überwacht, die die Bestrafung elektronisch mit verfolgten. Dies hier war geheiligter Boden. Hier versammelten sich die Crews schon seit der Gründung des Commonwealth. Seit zweihundertfünfzig Jahren hatten hier Tausende von Männern gestanden und Ankündigungen gelauscht, Kapitäne begraben, Quartermeister gewählt oder waren, wie heute, Zeugen von Bestrafungen geworden.
Knox hatte die Vorbereitung des Gefangenen persönlich überwacht und dafür gesorgt, dass er gefesselt und geknebelt wurde. Er wollte keine verzweifelte letzte Rede. Die Sache musste hier und jetzt enden.
Aber ihn beunruhigte, was der Gefängniswärter ihm berichtet hatte. Der Gefangene hatte darum gebeten, unter vier Augen mit Hale zu sprechen, und der Kapitän hatte ihm die Bitte erfüllt und ein paar Minuten allein mit dem Mann verbracht.
Das war zweifellos alarmierend.
Knox’ Blick richtete sich auf die vier Kapitäne, die auf der hinteren Seite des Vorplatzes beisammenstanden. Der Gefangene war an einen Kiefernpfahl in der Mitte des Platzes gefesselt, die Mitglieder der Crews hatten sich auf der anderen Seite versammelt.
Er trat vor.
»Dieser Mann wurde wegen Verrats angeklagt und verurteilt. Als Strafe wurde der Tod festgesetzt.«
Er ließ diese Worte ihre Wirkung entfalten. Der Sinn einer solchen öffentlichen Bestrafung war ja, dass sie sich ins Gedächtnis eingrub.
Er sah die Kapitäne an. »Welche Methode haben Sie bestimmt?«
In vergangenen Jahrhunderten hatte es Optionen gegeben. Den Verurteilten in Ketten schlagen und dann ohne Nahrung und Wasser einsperren? So kam der Tod erst nach Tagen. Von einem Mast herabhängen lassen, bis Wind, Wetter und Hunger sich als tödlich erwiesen? Das ging schneller. Mit einer neunschwänzigen Katze auspeitschen? Das wirkte sogar noch schneller, da die Knoten der Lederpeitsche innerhalb weniger Minuten töteten.
Auch heutzutage gab es Optionen.
Hängen. Erschießen. Ertränken.
»Woodling«, rief Hale.
41
Washington, D.C.
Wyatt stand wartend neben der Selbstschussanlage, als auf der anderen Seite der Tür ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde.
Er beobachtete, wie der Türgriff herunterging.
Andrea Carbonell würde gleich ihre Wohnung betreten. Ob ihr gar nicht bewusst war, dass die schlichte Tatsache des Heimkommens sie das Leben kosten würde?
Die Tür ging auf.
Die Nylonschnur spannte sich und rieb sich quietschend an den Ringschrauben.
Die Türangeln drehten sich um dreißig Grad, vierzig Grad und schließlich fünfundvierzig Grad.
Er hatte sich bereits vergewissert, dass mindestens eine Türöffnung von sechzig Grad nötig war, um den Abzug durchzudrücken und den Schuss auszulösen.
Mit dem Fuß stoppte er die aufgehende Tür und schnitt die Schnur mit einer Schere durch.
Er zog seinen Fuß weg, und die Tür öffnete sich ganz.
Carbonell starrte ihn an, dann das Gewehr und die Nylonschnur, die im trüben Licht herabbaumelte. Nicht die geringste Andeutung von Überraschung stand in ihrer Miene.
»War es eine schwere Entscheidung?«, fragte sie.
Er hielt noch immer die Schere in der Hand. »Mehr, als ich gedacht
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