Die Wasserfälle von Slunj
ihn angetreten hätten; aber eines Tages werden am Rande dieses Weges neue Zeichen und Marken sichtbar, die Gegend ändert sich, verkreuzte Pfade laufen in glatte Straßen zusammen, und wir halten schließlich erstaunt in der befremdenden Landschaft der Vollendung.
Ein merkwürdiges Factum, dachte Doctor Eugen. Obendrein hatte er einen ganzen umfänglichen Abschnitt noch vor sich geglaubt, dessen fertige Reinschrift längst in einer versperrten Schreibtischlade lag.
Es war ihm wirklich gelungen, dies zu verstecken.
Der Termin stand auf dem 15. November, und jetzt war Mitte Juli.
Er konnte unterbrechen und nach Gastein fahren.
Der Wagen bog nach links ein und fuhr in raschem Trabe auf die Brücke zu. Jenseits stand in breiter Front das Grün der Baumwipfel. Die Wärme war noch immer dicht, jetzt, um halb sieben Uhr abends. Es glitzerte der Fluß auf und ab, zwischen den Stahlträgern der Brücke. Die Au empfing. Nun fuhr man, nochmals nach links biegend, im grünen Schatten einer Allee, an der Villa Clayton vorbei. Es hätte Doctor Eugen interessiert, das zu wissen.
Rita wohnte jetzt in der Reithlegasse. Er hatte keine Anschaulichkeit davon, so wenig wie von ihrer letzten Wohnung.
An diesem Punkte war für Doctor Eugen stets ein rasch ihn anfliegendes Unbehagen bereit, eines von der komplizierten Art, also ein wirkliches, ein tieferes, nicht nur ein vorüberziehender Wolkenschatten der Malaise, der dem vorgerückten Alter gewöhnlich ist. Früher einmal war es Schmerz gewesen, ja sogar Qual: die Geliebte dort draußen zu wissen, in unbekannter Umgebung, in zahlreichen unzugänglichen Zusammenhängen, und einem fremden Manne untergeordnet. Die absolute Herrschaft der Diskretion, von ihm selbst errichtet, nicht von Rita – welche wohl möglich bereit gewesen wäre, ganz andere Wege zu wählen – führte in Lagen, die als unwürdig empfunden werden mußten: man wagte es ja nicht einmal, einen Ausflug zu unternehmen, soupieren zu gehen, einander in der Stadt zu treffen. Man wagte es nicht: soll heißen, er wagte es nicht, hatte und hätte es nie gewagt. Rita wäre zu alledem ohneweiteres bereit gewesen, das wußte der Doctor Eugen gut: und eine Ehescheidung war ihr – trotz des Skandals, den das zu jener Zeit bedeutete – in den ersten Jahren wahrscheinlich als der angemessene Ausweg erschienen. Diese ersten Jahre gingen vorbei, und so auch schließlich einmal Qual und Schmerz für Doctor Eugen, der die Diskretion zu etwas Absolutem und Unantastbarem erhoben hatte; aber es konnten die Augenblicke nicht ausbleiben, da er sich fragen mußte: warum eigentlich?! Hatte er sich nur und ausschließlich seiner richterlichen Stellung wegen so verhalten? Die Frage war zu bejahen, das wußte er, und auch, daß gerade dies das Ganze nicht schöner machte. Aber solche Bejahung ließ doch etwas draußen, sie umfaßte und erschöpfte die Sache nicht.
So war es denn mehrmals schon zu Rebellionen des Doctor Eugen gegen seine eigene Lebensform gekommen, die er doch zähe verteidigte und eisern festhielt; und auch das wußte er freilich, der Doctor Eugen, wenn es auch nicht so plan auf der Hand lag, wie die Herkunft einer Diktatur der Diskretion von seinem hohen Amte.
Aber, wenn sich auch Schmerz und Qual mit den Jahren beruhigt hatten: sie kehrten verwandelt wieder, als Rita ihm die kleine Monica nicht mehr brachte, weil das Kind heranwuchs und schon zu sprechen begann: es wurde ihm nun von Rita entzogen; so nannte er das bei sich, und empfand es oft geradezu als eine Vergeltung, wenn nicht Rache. Zuletzt kehrten sich seine eigenen Vorkehrungen gegen ihn selbst; und der Doctor Keibl mußte erkennen, daß Vorsicht nicht immer auch schon Voraussicht bedeutet.
Der Wagen schwenkte in die Hauptallee und fuhr in raschem Trabe die gerade Fahrbahn entlang.
Die letzten Sachen und ihr nicht vorausgesehenes Ergebnis erkannte er klar, der Doctor Eugen. Aber ein dumpfer Druck im Gewissen ist als Motor des persönlichen Lebens wirksamer als die klarste Einsicht. Ein solcher Druck war hier nicht mehr vorhanden, jedenfalls nicht mehr In erkennbarem Zusammenhang mit Rita und dem Kinde. Das Unbehagen, welches ihm aus dem Zerfall seines Daseins in disparate Hälften kam, war gleichsam selbständig geworden und geisterte jetzt überall herum. Die Erfahrung, daß man so etwas wie ein Doppel-Leben führen könne, hatte Doctor Eugen nun einmal gemacht: jetzt aber zeigte sich in unbegreiflicher Weise, daß dieser einmal begonnene Zerfall
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