Die weise Frau
sie ihr Schicksal unter Kontrolle halten konnte.
»Ich kann nicht zurückgehen«, sagte Alys. »Ich werde nicht zurückgehen.«
Sie dachte an ihre Mutter, die Frau, nach der sie sich gesehnt hatte, deren Verlust sie jeden Tag betrauert hatte, und sie entdeckte, daß die tiefe Wunde des Schmerzes verheilt war. Wenn sie jetzt an Mutter Hildebrande dachte, packte sie die Furcht vor Einmischung, machte sie ihr angst. Mutter Hildebrande war nicht mehr länger eine Heilige, um die man trauern konnte. Sie war eine lebendige Bedrohung.
»Sie sollte fortgehen«, sagte Alys leise. »Sie sollte in ein richtiges Nonnenkloster gehen. Ich würde mit ihr gehen, wenn sie nur in ein richtiges Nonnenkloster ginge. Selbst jetzt, da Catherine verstoßen werden wird und jeder Hugo als meinen Geliebten anerkennt und mich als Mutter des Erben, würde ich mit ihr gehen, wenn sie in ein richtiges Nonnenkloster ginge.«
Alys überlegte. Sie dachte an den Frieden und die Freude ihrer Kindheit als Mutter Hildebrandes Liebling. Sie dachte an die ruhigen Unterrichtsstunden, an ihre Freude, daß sie so schnell lernte, die Freude, die Beste zu sein. Sie dachte an den Destillationsraum und den Geruch der Kräuter und Tinkturen. Sie dachte an den Kräutergarten und die geheimnisvollen Blätter der Kräuter, den Geruch von Lavendel, wenn sie ihn zwischen den Händen zerrieb, die samtige Berührung von Salbei, den frischen Geschmack von Minze, wenn sie einen Stiel abbrach und lustvoll hineinbiß.
Alys schüttelte den Kopf. Sie starrte immer noch den Himmel und die Bettvorhänge an, aber sie sah nur das kleine Mädchen mit den blonden Haaren, das sich nach Frieden und Reichtum sehnte und das die Mutter Äbtissin liebte, die ihr beides gegeben hatte.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Nein, das würde ich nicht. Ich würde nicht mit ihr gehen, nicht einmal, wenn sie in ein anderes Kloster ginge. Das war das Leben meiner Kindheit, genauso wie Morach das Leben meiner Kindheit war. Ich werde nicht rückwärts an all diese alten Plätze gehen. Ich bin mit beiden fertig. Ich wünschte, sie wären beide tot und verschwunden.«
Die Tür öffnete sich ohne Anklopfen, und Hugo kam herein.
»Du ruhst wie eine Lady, was, Alys!« nuschelte er und hielt sich an der Tür fest. Er war noch in der Großen Halle geblieben, nachdem Alys und sein Vater gegangen waren. Die Musiker hatten immer weiter gespielt, die Weinkrüge waren gekreist. Die Serviererinnen waren aus der Küche gekommen und hatten wild getanzt.
Hugo und die Soldaten hatten getrunken, die Damen angeschrien, eine aus dem Kreis gerissen und sie herumgezerrt. Während Alys und der alte Lord gearbeitet hatten, die Zukunft geplant hatten, hatte Hugo in der Halle gespielt. Für Hugo gab es keine Arbeit. Er war ein untätiges Kind.
Alys stützte sich mit einer Hand auf. »Dein Vater hat mir befohlen, mich auszuruhen.«
Hugo stieß sich vom Türstock ab, schloß die Tür, stolperte ins Zimmer und hatte Mühe, seinen Schritt zu kontrollieren.
»O ja«, sagte er bissig. »Du bist ja jetzt seine große Favoritin, Alys, nicht wahr?«
Alys sagte nichts, versuchte Hugos Trunkenheit abzuschätzen und seinen unterdrückten Zorn.
»Gott weiß, warum!« rief er. »Deine verdammte, bauern-schlaue, weise Einmischerei hat mich meinen Sohn gekostet! Ihm seinen Enkel gekostet! Wenn wir einen Arzt gehabt hätten, einen anständigen Mann, der diese Sachen studiert und gelesen hat, aus York oder aus London, dann würde Catherine das Kind noch tragen! Und ich würde mein Geld im Herbst bekommen und einen Erben haben.«
Alys schüttelte den Kopf.»Das Kind war krank«, sagte sie. »Sie hätte es nie bis zum Schluß behalten, gleichgültig, wer bei der Geburt dagewesen wäre.«
Hugos dunkle Augen sprühten Feuer. »Weiser Frauen Mumpitz«, sagte er gerade heraus. »Du hast mir geschworen, er wäre gesund. Du hast geschworen, es wäre ein gesunder Junge. Du bist eine Lügnerin und eine Betrügerin. Und alles, was du sagst, ist Lug und Trug.«
Alys schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, beobachtete nur, wie seine Wut sich steigerte.
»Zieh dein Kleid aus.«
Alys zögerte.
»Du hast mich gehört«, keifte Hugo. »Zieh dein Kleid aus. Mein Kleid, erinnerst du dich? Die Nummer zwölf, die das Dutzend, wie bei Catherine, voll gemacht hat. Das, worum du wie eine Hure gebettelt hast.«
Alys erhob sich und löste die Schnürung des Kleides, streifte es ab, hing es sorgfältig über das Bettende, schlug die kalten Laken
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