Die Widmung: Roman (German Edition)
Cousine – wieder spielte ihm sein Kopf Streiche. Es war nicht seine Cousine, sondern eine ganz andere Person. Die Stränge seiner Erinnerung rissen ab. Es passierte nun häufig, dass er sich von einem Zimmer in das nächste mühte, um dann, am Ziel angelangt, festzustellen, dass er keine Ahnung mehr hatte, weshalb er hereingekommen war. Namen verflüchtigten sich. Selbst ganz einfache Sätze blieben ihm versagt, als hätte die Salzluft seine noch ungebildeten Worte gestohlen und ins Meer geblasen.
Er blickte über die Turner Street hinaus auf das alte Haus. Es hatte sich im Laufe der Jahre so sehr verändert, dass man sich die Rekonstruktion nur schwer vorstellen konnte. Zuerst war es ganz simpel gewesen, bloß ein paar Zimmer mit niedriger Decke. Mit zunehmendem Wohlstand gab es Anbauten, so dass am Ende alle sieben Giebel aus seinem berühmten Buch vorhanden waren. Doch der modische föderalistische Stil hatte Schlichtheit diktiert, daher waren die Giebel entfernt, jedoch später wieder angebaut worden, als sein Buch das Haus so bekannt gemacht hatte. Es war wahrlich amüsant, dass diese Frau, an deren Namen er sich nicht einmal erinnerte, die Aufgabe übernommen hatte, dieses Haus der Öffentlichkeit zu präsentieren, und noch amüsanter war es, dass die Öffentlichkeit es auch sehen wollte, sogar gewillt zu sein schien, dafür Geld zu bezahlen, um nicht nur das Haus mit seinem Geheimzimmer zu besichtigen, sondern auch andere Dinge, die in und an dem Haus vor seinem Eingang in die Dichtung nie vorhanden gewesen waren, Hepzibahs Kramladen zum Beispiel oder Maules Brunnen.
Er wusste nicht recht, was er von alldem halten sollte. Er war schüchtern veranlagt und legte keinen Wert auf die Huldigungen, die ihm zuteilwurden. Dennoch liebte er das Haus mehr als jede Wohnstatt, in der er zuvor oder seither gelebt hatte, und er hielt es für seine ureigenste Verantwortung, ein Auge auf das Anwesen zu haben. Das schien seine einzige verbliebene Aufgabe zu sein. Seine Hände konnten den Stift nicht mehr halten. Und die Wörter waren ihm abhandengekommen. Aber er wusste genau (denn durch sein Schreiben war es so geworden), dass das Haus mit den Giebeln, mochte es auch verflucht sein, auf immer und ewig nicht der Familie gehörte, die es ursprünglich errichtet hatte, auch nicht seiner Cousine oder der Frau, an deren Namen er sich nicht erinnerte, sondern den Figuren, die er in seiner Geschichte geschaffen hatte, Hepzibah und Clifford und Phoebe.
Irgendwo in der Ferne klingelte ein Telefon. Es ging ihm schlecht heute. Das lag nicht allein an den Knien. Er fühlte sich benommen, mehr als sonst. Und seine Hände waren von einer Steifheit, die er nicht lockern konnte. Er hatte etwas dagegen eingenommen. Eine Besucherin, eine, die er im ersten Moment für seine geliebte Hepzibah gehalten hatte, hatte ihm das gegeben. Er würde bald sterben. Das spürte er. Langsam, aber stetig schien der Tod über ihn zu kriechen. Die Totenstarre spürte er bereits, in den Knien. Er lehnte an der Wand, blickte hinaus über die Straße auf sein berühmtes Haus und konnte sich nicht rühren. Er war zu Stein erstarrt, und es blieb ihm nur zu warten, bis ihn die Medizin oder irgendeine Naturgewalt erlöste.
Wo waren all die, die er in seinem Leben so sehr geliebt hatte? Wo war Sophia? Tot, dachte er, doch wie sie gestorben war, daran erinnerte er sich nicht mehr. Dann dachte er an Melville, und Tränen rannen ihm übers Gesicht. Melville war nicht tot. Das konnte nicht sein. Dann stieg Wut in ihm auf, ein beinahe mörderischer Zorn.
Da stand er nun, eine Statue, ein Gebilde aus kaltem Granit, das in seiner Kälte einen Rest von Leben gefangen hielt. Die Statue konnte sehen, fühlen und wollen. Was er jetzt wollte – und er wünschte es sich verzweifelt –, das war, die Gärten auf der anderen Straßenseite zu sehen, wo in seiner berühmten Geschichte der alte Hahn, dem er den Namen Chanticleer gegeben hatte, und seine beiden alternden Hennenfrauen es geschafft hatten, ein einziges letztes winziges Ei hervorzubringen, dem jedoch nicht bestimmt war, den Fortbestand des aristokratischen Geschlechts des Hahns zu sichern, sondern das stattdessen zum Frühstück serviert worden war. Er hatte den Text zunächst amüsant gefunden, als er ihn geschrieben hatte. Aber heute trauerte er um Chanticleer und die Hennen und den Verlust ihres Geschlechts. Natürlich war das nicht wirklich, es war nur in seiner Fantasie wirklich gewesen und auf dem Papier. Und
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