Die Widmung: Roman (German Edition)
fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten wie er selbst.
Melville traf Finch zum zweiten Mal im Museum. Finch recherchierte für sein Buch über Melvilles Briefe an Hawthorne. Die meisten befanden sich in Familienbesitz oder waren in früheren Werken dokumentiert, aber Finch interessierte sich auch für die im Museum aufbewahrten Aufzeichnungen der Acushnet , eines Schiffs, auf dem Herman Melville angeheuert hatte und von dem er auf den Marquesas-Inseln desertiert war.
Finch war älter. Und hochintelligent. Die beiden verstanden sich sofort.
Während der nächsten Monate arbeiteten sie häufig bis spätabends im Museum.
Melville lernte Finchs Tochter kennen.
Eines Nachts erzählte Finch Melville die Geschichte von Hawthornes Frau Sophia. Melville kannte die Erzählungen, die sich um Hawthorne und Sophia rankten. Es war eine der größten Liebesgeschichten in der literarischen Welt. Aber Finch erzählte an diesem Abend nicht von ihrer Liebe.
Sophia hatte schon immer Nervenprobleme gehabt. Dazu kamen lähmende Kopfschmerzen, unter denen sie die meiste Zeit ihres Lebens gelitten hatte. Sie war ein recht kränkliches Kind gewesen. Damals hatte es eine populäre medizinische Theorie gegeben, von der Finch erst vor kurzem gehört hatte, die sich um Quecksilber und das Zahnen drehte. Jede Generation hat eine Medizin für ein bestimmtes Leiden, und jede Generation hat etwas, dem man die Schuld für Krankheiten aller Art gibt. Heutzutage ist das vielleicht Umweltverschmutzung, Überempfindlichkeit gegen Chemikalien oder gar die Impfung. In Sophias Jugend war es das Zahnen gewesen. Dem Zahndurchbruch schrieb man von Lähmungen über Irrsinn bis zur Schwindsucht alles zu. Man glaubte, je früher man den Prozess des Zahnens beenden konnte (was zweifellos mit Qualen für das Kind verbunden war), desto besser. Krankheiten könnten nur vermieden werden, wenn die Zähne rasch das Zahnfleisch durchdringen würden. Aus diesem Grund schnitten Eltern ihren Kindern oft mit unhygienischen und unpräzisen Werkzeugen wie einem Küchenmesser das Zahnfleisch auf. Die offenen Wunden behandelten sie mit Quecksilber.
»Quecksilber?«, sagte Melville zu Finch. »Das kann ja wohl nicht wahr sein.«
»Oh doch«, antwortete Finch. »Quecksilber wurde in diesem Land noch bis 1960 als Antiseptikum verwendet. Bist du alt genug, um dich an Mercurochrome zu erinnern?«
Melville erinnerte sich zwar an Mercurochrome, aber nur vage. Eine alte Flasche mit eingerissenem orange-rotem Etikett.
»Früher hat man häufig Gift verwendet, um Infektionen zu behandeln«, sagte er.
Er fuhr fort zu erzählen, dass es eine neue Theorie gab, die behauptete, Sophias Kopfschmerzen und ihr unberechenbares Wesen seien wahrscheinlich auf eine Quecksilbervergiftung zurückzuführen.
Melville wusste nicht mehr, wie Finch von Sophias Persönlichkeit auf die von Maureen gekommen war, aber er wusste sehr wohl, dass er den Übergang meisterhaft vollzogen hatte. Ehe Melville es sich versah, sprach Finch über seine eigene Frau, ihren sprunghaften Charakter und die Krankheit, wegen der sie auf unbestimmte Zeit ins Krankenhaus musste.
»Meine Frau ist manisch-depressiv«, hatte Finch gesagt. »So lange ich denken kann, war sie immer wieder im Krankenhaus.«
»Das ist bestimmt schwer«, sagte Melville.
»Es ist schwer, besonders für meine Tochter. Dieses letzte Mal war sehr schwer für uns alle. Diesmal fürchte ich, dass sie gar nicht mehr nach Hause kommt.«
»Das tut mir leid«, sagte Melville.
Finch sah ihn so mitleiderregend an, dass Melville unwillkürlich reagierte: Obwohl sie mitten in der East India Hall standen, streckte er automatisch die Arme aus und umschlang Finch. Lange standen sie so da, und die Schritte der Vorübergehenden hallten in den Sälen um sie herum wider, während Finch leise an Melvilles Schulter weinte.
Zu behaupten, sie seien von da an zusammen gewesen, wäre verkehrt. Vielmehr schienen sie einfach weiter zusammengeblieben zu sein. Ihre Forschungen gingen dann in späte Abendessen über, sie holten sich irgendwo etwas und aßen es in Melvilles Zimmer in der Essex Street. Als Finch Bedenken äußerte, Zee so lange allein zu lassen, verlegte Melville sein Boot vom Liegeplatz an der Congress Street zu einem gleich an der Turner Street. Sie trafen sich auf dem Boot, wenn Zee im Bett war. Seit ihre Mutter im Krankenhaus lag, hatte Zee häufig Alpträume, und das Boot war so nahe, dass man hören konnte, wenn sie aufschrie, denn über das
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