Die Widmung: Roman (German Edition)
Auslaufen mit Touristen an Bord beantragt hatten, aber bisher war nichts daraus geworden.
Wenn sie mit der Friendship heute noch auslaufen wollten, dann sollten sie es besser bald tun, dachte Ann. Später würde es ein Unwetter geben, und zwar ein gewaltiges. Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste – sie hatte keinen Wetterbericht gehört –, aber Ann wusste immer etwa einen Tag vorher genau, wie und wann sich das Wetter entwickeln würde. Wäre sie nicht Hexe gewesen, hätte sie leicht als Meteorologin arbeiten können.
Bei dem Gedanken an den Tag, der vor ihr lag, seufzte sie. Ihre erste Kundin wartete bereits drinnen, ein gut zwanzigjähriges Mädchen, das in den letzten paar Monaten schon mehrfach im Laden gewesen war, um sich wahrsagen zu lassen. Sie wollte ihren Lebensgefährten heiraten, aber der zog noch nicht so recht. Bei den vielen Wahrsageterminen hätte Ann beinahe vergessen, dass Zee sich angekündigt hatte. Sie hatte angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen könne. Ann hatte sie zum Mittagessen eingeladen und gar nicht daran gedacht, dass heute der Vierte Juli war. Sie hatte überlegt, den Besuch zu verschieben, aber sie hatte Zee selten gesehen, seit sie wieder da war, und das Mädchen hatte es nicht leicht. Finch war noch nie leicht im Umgang gewesen, wobei Ann ihn immer gemocht hatte. Selbst als Maureen so gelitten hatte, hatte Ann Finch nie Vorwürfe gemacht. Maureen war zwar eine der besten Freundinnen von Ann gewesen, aber man hatte unschwer erkennen können, wie krank sie war.
Was Maureen überhaupt an Finch gefunden hatte, ließ sich nur vermuten. Trotzdem schien sie ihn geliebt und ihn begehrt zu haben, so wie sich Dichter nach dem romantischen Ideal sehnen, dem Einswerden mit der Geliebten. Aber Ann brauchte keine telepathischen Fähigkeiten, um zu merken, dass einige von Maureens Geschichten über ihre leidenschaftliche Liebe erfunden waren. Immerhin schrieb Maureen Märchen. Während der Jahre war Ann der Verdacht gekommen, dass die Geschichten, die Maureen erzählte, gar nicht über Finch gingen, und wenn, dann war es auf Maureens Seite eher Wunschdenken als Realität.
Nach dem Selbstmord ihrer Mutter hatte sich Zee ziemlich oft in Anns Laden aufgehalten.
»Glaubst du an Wiedergeburt?«, hatte sie eines Tages gefragt.
»Ich weiß nicht, meine Liebe«, sagte Ann. »Warum fragst du?« Natürlich hatte sie genau gewusst, warum sie fragte, aber sie wollte Zee zum Reden bringen. Seit Maureens Tod war Zee viel zu schweigsam gewesen.
»Meine Mutter hat daran geglaubt«, meinte Zee.
Ann nickte. »Ja, das stimmt.«
»Ich dachte, sie kommt vielleicht als so jemand wie Julia zurück.«
»Du meinst die Julia aus ›Romeo und Julia‹?«
»Ja, ich weiß schon, dass es sie nicht in echt gegeben hat, aber eben so jemand wie sie. Eines der bekannten Paare, deren Liebe unter einem schlechten Stern stand.«
Ann überlegte.
»Vielleicht kommt sie auch als Radieschen wieder«, meinte Zee.
»Als Wurzelgemüse?«
»Wieso nicht?«, sagte Zee. »Warum müssen wir überhaupt als Menschen zurückkommen?«
»Ja, warum eigentlich?«, meinte Ann.
»Meine Mutter hat Radieschen angepflanzt.«
»Wirklich?«, fragte Ann. »Das wusste ich gar nicht von deiner Mutter.«
»Es gibt so einiges, was du nicht von meiner Mutter wusstest.«
Ann dachte bei sich, dass das wahrscheinlich stimmte. Zee hatte immer viel mehr gewusst, als ein Kind ihres Alters wissen sollte.
»Radieschen hat sie wirklich sehr gerne gemocht«, sagte Zee. »Sie hat ständig welche gegessen. Finch hat gesagt, wenn sie noch mehr davon isst, verwandelt sie sich selbst in ein Radieschen.«
Das brachte ein Lächeln auf Anns Lippen. Sie mochte dieses Kind wirklich gerne. Zee ähnelte ihrer Mutter kaum, und ihrem Vater eigentlich auch nicht. Sie war ein ganz eigener Typ.
»Ich habe ein paar Bücher über Reinkarnation«, sagte Ann. »Falls du sie lesen möchtest.«
»Nein«, sagte Zee. »Ich wollte nur wissen, ob du daran glaubst.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich davon halten soll«, sagte Ann.
Ann lernte Maureen in dem Jahr vor Zees Geburt kennen. Maureen meldete sich bei Ann für einen Heilkräuterkurs an, der zwar für praktizierende Hexen gedacht war, an dem aber jeder teilnehmen durfte.
Es war eine eindeutig manische Phase in Maureens Leben. Sie gab Finchs Geld mit vollen Händen aus und meldete sich zu allem Möglichen in der ganzen Stadt an. Es hätte nervig sein können, wäre sie nicht eine so zauberhafte
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