Die Widmung: Roman (German Edition)
lange.
»Verdammt«, meinte er schließlich.
3. TEIL
Juli 2008
Auch nach dem Aufkommen moderner Navigationsinstrumente empfiehlt es sich noch, den Kurs durch tägliche Sonnen- und Gestirnsmessungen zu überprüfen: einmal mittags und dann wieder in der Dämmerung, sowohl bei Sonnenaufgang wie bei Sonnenuntergang, in den kurzen Augenblicken, wenn die Sterne und der Horizont noch sichtbar sind, gerade bevor der Horizont sich mit der Dunkelheit vereint oder die Sterne vom Licht des Tages verschluckt werden.
25
Die Historiendarsteller saßen wieder auf den Bänken vor Anns Laden, und diesmal waren sie betrunken. Nicht alle. Offenbar trank keiner von den Piraten mit (nicht einmal diejenigen, die die Seemannslieder sangen), und die tranken eigentlich meistens. Nein, diesmal waren es die Darsteller des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, die sich mit Flachmännern oder Flaschen in Papiertüten auf den Bänken niedergelassen hatten. Die Rotröcke und die Patrioten saßen einander gegenüber und bewarfen sich gegenseitig mit Beleidigungen aus der Kolonialzeit.
Das reicht jetzt, dachte Ann. Wahrscheinlich waren sie in ihrem Job ziemlich gut – zumindest spielten sie ihre Rolle konsequent –, aber sie nahmen die ganze Sache mit dem Vierten Juli viel zu ernst. Ann fand sie etwas draufgängerischer als in den vorangegangenen Jahren; wahrscheinlich hatte das mit der Miniserie John Adams zu tun, die gerade auf HBO angelaufen war. Sie schienen auch genauer auf historische Details zu achten: die ansteckbaren Pferdeschwänze, die sie zur Schau trugen, passten besser zu ihrer Haarfarbe, und einige hatten Pulverhörner bei sich oder trugen Nagelschuhe mit großen rechteckigen Metallspangen.
Ein paar Patrioten stimmten ein Lied an, mit dem sie die Rotröcke noch mehr verspotten wollten:
Rotröcke, was wollt ihr da,
seid wohl nicht ganz gescheit?
Hier lauert überall Gefahr,
in Berg und Tal, von weit und breit.
Ja, hört ihr nicht das Horn erschallen?
Bald hört ihr auch Gewehre knallen!
Am Ende des Lieds hob einer der Patrioten sein Gewehr und feuerte in die Luft.
»Schluss jetzt!«, sagte Ann.
Salem war seit langem bekannt für seine Hexen und sogar für die Piraten, aber ganz bestimmt nicht für Nachstellungen des Unabhängigkeitskrieges. Obwohl das erste Blut der Revolution tatsächlich in Salem vergossen wurde, fanden die Inszenierungen immer in Städten wie Concord und Lexington statt. Daher war es Ann besonders unangenehm, heute Revolutionssoldaten auf der Bank vor ihrem Laden zu sehen. Konnten die nicht in ihrem eigenen Revier bleiben, wenn sie feiern wollten? Wieso mussten sie dauernd zu Mickey gehen?
Ann warf ihnen von der Tür aus einen finsteren Blick zu. »Könnten Sie bitte weiterziehen? Sie jagen meinen Kunden Angst ein«, sagte sie.
» Wir jagen Ihren Kunden Angst ein?«, sagte ein Rotrock mit perfektem Sussex-Akzent zu ihr. Diese Vorstellung schienen die Soldaten unglaublich lustig zu finden. Aus Anlass des Feiertags trug Ann ihr volles Hexenornat. Am Abend zuvor hatte sie ihre fast hüftlangen roten Haare mit schwarzem Henna gefärbt, und dabei war eine schillernde Farbe herausgekommen, die changierte, wenn Ann sich bewegte, und dadurch eine leicht halluzinogene Wirkung erzielte. » Sie jagen uns eine Heidenangst ein.«
»Ich kann Ihnen noch viel mehr Angst machen, wenn Sie nicht abziehen«, entgegnete sie.
»Das ist ein freies Land«, sagte der Mann, der als Paul Revere verkleidet war. »Heute ist der Vierte Juli, verdammt.«
Der Vierte Juli war der betriebsamste Tag für Ann. Am Unabhängigkeitstag kauften die Leute nicht nur gerne Souvenirs, offenbar ließen sie sich auch gerne die Zukunft vorhersagen. Sie hatte den ganzen Tag über Termine, aber das meiste Geschäft machte sie mit der Laufkundschaft. Alle ihre Mädchen würden heute gut zu tun haben. An dem Feiertag verdiente Ann beinahe doppelt so viel wie an einem normalen Wochenende – das heißt, wenn die Leute wirklich in den Laden kamen, und sie würde es ganz sicher nicht zulassen, dass diese Typen ihre Kundschaft einschüchterten.
Sie überlegte, wie sie die Männer am besten verscheuchen konnte. Sehr wahrscheinlich würden sie die Beine in die Hand nehmen, sobald Ann ihre Gesänge anstimmte. Aber damit vertrieb sie womöglich auch potentielle Kunden, die sich am Pier aufhielten und die Aussicht über das Meer genossen oder auf einen Platz in einem der Restaurants am Hafen warteten. Sie brauchte etwas Dezenteres. Sie war
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