Die Wiedergeburt
nach, was sie über Lucian gesagt hatte, vielleicht überlegte er auch nur, wie er den Vampyr zur Strecke bringen konnte. Im Augenblick war es ihr gleichgültig, was in ihm vorging. Sie war noch immer zu sehr von den Gefühlen gefangen, auf die sie am anderen Ende des Bandes gestoßen war. Bei der Erinnerung an die tiefe Verzweiflung und Trauer kroch das Entsetzen auf dünnen, eisigen Beinen über ihren Rücken. Das war nicht der Lucian, den sie kannte. Aber was mochte ihn derart verändert haben? Fühlte es sich so an, im Geist eines Vampyrs zu sein? Eines wirklich bösartigen Vampyrs? Nein! Das war unmöglich! Dann begriff sie es plötzlich.
»O mein Gott«, entfuhr es ihr leise. Sie hatte die Worte nicht laut aussprechen wollen, doch als sie die Wahrheit endlich erkannte, ließ sich der Schrecken nicht länger zurückhalten.
Sofort war Gavril an ihrer Seite. »Fehlt dir etwas?«, rief er erschrocken. »Hast du Schmerzen? Soll ich eine der Schwestern rufen?«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Er denkt, ich bin tot«, flüsterte sie. »Deshalb ist er nicht hier.«
Gavril musterte sie irritiert. Sein Blick war so eindringlich, als fürchte er, sie könne dem Wahnsinn anheimgefallen sein. Dann verzog er das Gesicht. »Dein Vampyr.« Er trat ans Fenster und starrte mit verkniffener Miene in die Nacht hinaus.
Sie hatte die Bettdecke schon zurückgeschlagen und sich aufgesetzt, als Gavril erschrocken rief: »Was machst du da?«
»Ich wollte …« Was wollte sie? Blindlings davonstürmen, obwohl sie noch immer nicht vollends bei Kräften war? Loslaufen und Gavril geradewegs zu Lucian führen? »Nichts«, murmelte sie. »Schon gut.«
Gavril sah sie lange an. »Manchmal glaube ich, dich nicht mehr zu kennen. Wenn es um ihn geht, scheinst du den Verstand zu verlieren.« Er wollte noch mehr sagen, doch plötzlich hielt er inne.
»Was –?«
Er hob die Hand und bedeutete ihr zu schweigen. Mit zwei schnellen Schritten war er an der Tür und lauschte in den Gang hinaus. Draußen war alles still. Dann knarrte eine Diele. Selbst in ihrem Zustand erkannte Alexandra den Unterschied zwischen normalen Schritten und jemandem, der sich langsam heranschlich. Rasch legte Gavril von innen den Riegel vor und kehrte zum Bett zurück. Er griff nach Alexandra und half ihr hoch. Schlagartig wurde ihr schwindlig. Sie grub ihre Finger in Gavrils Arm und hielt sich fest.
Er deutete auf die Verbindungstür. »Versteck dich dort drüben. Rühr dich nicht und warte, bis ich dich hole.«
Er gab sie frei und wollte wieder zur Tür, doch Alexandra hielt ihn zurück. »Danke, Gavril. Für alles.«
Er sah sie ernst an. »Damit eines klar ist: Ich habe das für dich getan, nicht für dieses Monster.«
Alexandra erwiderte nichts. Es war alles gesagt.
»Bleib in der Nähe der Verbindungstür«, wies er sie an. »Wenn du etwas hörst, das dir nicht gefällt, dann verschwinde durch die andere Tür auf den Gang und such dir ein Versteck! Hast du verstanden?«
Sie nickte.
Nach der schweren Verletzung, dem Fieber und der langen Bettruhe fühlten sich ihre Knie wie Hafergrütze an, und der Schwindel sorgte dafür, dass das Zimmer verschwamm. Noch schwerer fiel es ihr, sich zu bewegen. Trotzdem wagte sie einen ersten, unsicheren Schritt. Ihre nackten Fußsohlen streiften über den Holzboden, während sie sich, mit der Hand an die Wand gestützt, zum Nebenraum tastete. Nach ein paar Schritten ging es besser. Die Schwäche war noch immer da, doch der Schwindel ließ nach. Der Schmerz in ihrer Seite jedoch erwachte mit jedem Schritt ein wenig mehr.
Alexandra drückte die Klinke und schlüpfte nach nebenan in die Dunkelheit. Sie schob die Tür hinter sich zu und legte mit zitternden Händen den Riegel vor. Sie fand sich in einer winzigen Kammer wieder. Mondschein drang durch ein Fenster und entriss die kargen Steinwände der Finsternis. Der Raum war leer. Keine Menschen, keine Möbel – und auch keine Tür, die von hier aus auf den Gang geführt hätte. Nur das Fenster, durch dessen Ritzen ein kühler Luftzug fuhr.
Alexandra schluckte einen Fluch hinunter. Eine Hand an die Seite gepresst, in der Hoffnung, das zornige Pochen zum Verstummen zu bringen, stand sie da und lauschte. Kälte stieg vom Boden empor, kroch ihr durch ihre nackten Fußsohlen bis in die Knochen. Fröstelnd zog sie das Nachthemd zurecht und schlang die Arme um den Oberkörper. War da ein Geräusch auf der anderen Seite? Sehr gedämpft, vermutlich draußen auf dem Gang. Ein
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