Die Wiedergeburt
Dröhnen. Stimmen?
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geschehen nebenan. Einige Zeit blieb alles still, dann klopfte es an der Tür, die ihr Krankenzimmer mit dem Gang verband. Gavril reagierte mit Schweigen. Aus dem Klopfen wurde ein Hämmern, dann ein Rumpeln, dem ein ohrenbetäubendes Krachen folgte.
»Vladimir!«
Gavrils Ruf ließ Alexandra erstarren. Ihr Blick flog durch den Raum, auf der Suche nach einem Ausweg, und blieb am Fenster hängen. Mit unsicheren Schritten durchquerte sie die Kammer. Gegen den Fensterrahmen gestützt, versuchte sie einen Blick nach draußen zu erhaschen, aber die Scheibe war zu sehr beschlagen, als dass sie etwas hätte erkennen können. Entschlossen schob sie das Fenster nach oben und lehnte sich hinaus. Etwa sechs Meter unter ihr erstreckte sich eine Rasenfläche. Soweit sie es in der Dunkelheit erkennen konnte, lag unter ihr der Klostergarten. Nicht weit vom Haus entfernt, glaubte sie die Umrisse von Blumen- oder Kräuterbeeten auszumachen. Allerdings gab es keinen Weg, der sie nach unten führen würde. Keinen Balkon, über den sie einen anderen Raum erreichen, keine Leiter und auch kein Rosengitter, an dem sie nach unten steigen konnte. Beklommen warf sie einen Blick zur Tür zurück. Die Stimmen auf der anderen Seite wurden lauter. Vladimir war nicht allein. Zweifelsohne war Mihail bei ihm.
Was haben die beiden überhaupt hier zu suchen! Wenn es nach Gavril ginge, dürften sie nicht einmal in der Nähe der Stadt sein. Es sei denn … Er hat mich reingelegt. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Gavril hätte nicht wochenlang an ihrem Krankenlager ausgeharrt, wenn er vorgehabt hätte, sie seinem Bruder auszuliefern. Viel wahrscheinlicher erschien es Alexandra, dass Vladimir ihn belogen hatte, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Er musste etwas geahnt haben und hatte Gavril eine Falle gestellt.
Nebenan erklangen Schritte, die rasch näher kamen.
»Wo willst du hin?« Gavrils Stimme klang gedämpft, als stünde er mit dem Rücken zur Verbindungstür. Er verstellt Vladimir den Weg.
»Sehen, was du hier versteckst!«
»Ich verstecke gar nichts!«
»Was hast du dann hier zu suchen?« Diesmal war es Mihail, der sprach.
»Ich bin einer Spur gefolgt.«
Vladimir stieß ein raues Lachen aus. »Mach dich nicht lächerlich! Sie ist hier, nicht wahr?« Eine kurze Pause, dann: »Versuch gar nicht erst, mich zu belügen. Ihr Geruch ist überall an dir.«
Vladimirs Worte verursachten ihr eine Gänsehaut. Wie konnte er jemanden riechen, wenn er kein Vampyr war? Ihr Blick zuckte noch immer zwischen Tür und Fenster hin und her, als sie etwas Eigenartiges sah. Die Luft im Türspalt schien sich zu bewegen, hellgrauer Nebel schob sich unter der Tür durch. Eine dünne Schwade, die sich ihren Weg über den Boden tastete und suchend durch den Raum wogte. Frostige Kälte erfüllte die Luft und wurde immer durchdringender, je näher der Nebel kam. Obwohl sie zurückzuweichen versuchte, holte die Wolke sie ein, streifte um ihre Beine und strich über ihre Haut. Einen Moment lang hielt der Nebel inne, ehe er sich ruckartig zurückzog und wieder durch den Türspalt versickerte, aus dem er gekommen war. Er hat mich gefunden. Der Gedanke erschien ihr absurd und vollkommen schlüssig zugleich.
»Mach den Weg frei!«, erklang Vladimirs Stimme, kaum dass der Nebel fort war. Sie wusste, dass Gavril seinen Bruder und Mihail nicht mehr lange würde aufhalten können.
»Sie hat nichts Verwerfliches getan, Vladimir«, versuchte Gavril ihn zu beruhigen. »Himmel, sie gehört doch zu uns!«
»Geh mir aus dem Weg!«
»Nein!«
»Geh. Aus. Dem. Weg.« Selbst ohne Vladimirs Augen zu sehen, wusste Alexandra, was er tat. Sie sah deutlich vor sich, wie sich sein Blick in Gavrils bohrte, ihn gefangen nahm und ihm seinen Willen aufzwang. Selbst seiner Stimme war die Macht anzuhören, die seine Augen in diesem Moment ausüben mussten. Gavril schwieg. Alexandra glaubte jedoch Schritte zu hören, die sich rasch näherten. Er hat ihm den Weg freigegeben. Ganz, wie Vladimir es verlangt hat. Sie musste hier raus! Schnell! Während sie sich noch fragte, was sie tun sollte, wurde die Türklinke hinuntergedrückt. Alexandra hielt den Atem an. Erst als sie sah, dass sich die Tür auch nicht öffnete, als Vladimir – oder war es Mihail? – die Klinke immer wieder drückte und daran rüttelte, wandte sie sich dem Fenster zu. Es half alles nichts – es war der einzige Weg.
Plötzlich endete das
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