Die Wiedergeburt
im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen war. Dennoch: »Irgendetwas stimmt nicht.«
»Lass uns darüber sprechen, wenn du dich besser fühlst.« Lucian griff nach den Bandagen und machte sich daran, einen frischen Verband anzulegen. Obwohl die Prozedur nur wenige Minuten dauerte, fiel es ihr zunehmend schwerer, sich aufrecht zu halten. Lucian bemerkte es. »Gleich bin ich fertig«, sagte er und befestigte den Verband. »So, das dürfte reichen.«
Als er aufstand und die übrigen Bandagen zur Seite legte, kroch Alexandra unter die Decken. Dank der Bettpfanne war es dort herrlich warm. Sie rollte sich zusammen und schloss die Augen.
»Brauchst du noch etwas?«, drang Lucian Stimme zu ihr durch.
Sie wollte etwas erwidern, ihm sagen, dass alles in Ordnung war, doch die Müdigkeit hatte sie nun vollends eingeholt. Es fiel ihr schon schwer genug, die Lider zu heben und ihn anzusehen. Als sie nicht antwortete, strich er ihr noch einmal über die Wange. »Ruh dich aus«, sagte er und ging zur Tür. Auf der Schwelle hielt er noch einmal inne. »Ich lehne die Tür nur an. Wenn etwas ist, ganz gleich was: Ruf mich. Ich werde dich hören. Wenn du …«
Seine letzten Worte schwanden mit dem Rest der Welt, als ihr die Augen endgültig zufielen.
*
Wie versprochen lehnte Lucian die Tür nur an und ging nach unten in den Salon, um auf Robert zu warten. Sie hat es nicht geschafft. Wie hatte er das sagen können! Nicht minder erstaunte ihn, dass Alexandra auf den Gedanken gekommen war, er könne gegangen sein. Zweifelsohne musste es für beides eine vernünftige Erklärung geben.
Lucian ließ sich im Sessel nieder und lauschte dem regelmäßigen Ticken der Standuhr, das aus der Eingangshalle an sein Ohr drang. Er konnte noch immer nicht fassen, dass Alexandra am Leben war. Der Augenblick, in dem er das Band zu ihr wieder gespürt hatte, war so überwältigend gewesen wie kaum ein anderer in seinem langen Dasein. Immer wieder hatte er sich gefragt, warum er die Verbindung nicht schon viel früher gespürt hatte. Sie muss zu schwach gewesen sein. Er war so sehr in Rage und Trauer gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass die Verbindung zu ihr noch immer da war. Seit er von der Existenz des Bandes wusste, hatte er – wann immer sie nicht bei ihm gewesen war – danach gegriffen, um sich ihr nahe zu fühlen. Nach ihrem vermeintlichen Tod hatte er das vermieden. Zu schmerzlich und unerträglich war die Leere, die ihn am anderen Ende erwartete.
Nachdem es ihr gelungen war, zu ihm durchzudringen, war es für Lucian nicht schwer gewesen, sie zu finden – keinen Augenblick zu früh. Als er sie zu sich in die Nische gezogen und ihre Berührung gespürt hatte, war er von ihrer Nähe überwältigt gewesen. Anfangs hatte ihn ihr Zustand schockiert, doch schon bald war ihm bewusst geworden, dass sie in erster Linie durchgefroren und erschöpft war. Beides Dinge, denen mit einfachen Mitteln beizukommen war. Zurück im Haus, hatte es ihn einige Mühe gekostet, sie nicht mit seiner Fürsorge zu erdrücken. Ihre Unsicherheit war ihm nicht entgangen. Alexandra erschien ihm weniger ablehnend und kalt. Sie entzog sich ihm nicht, wie sie es für gewöhnlich tat, sondern schien froh um seine Nähe zu sein. Womöglich war das aber auch nur sein Wunschtraum und sie war lediglich zu erschöpft, um sich ihm zu entziehen.
Obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, sich nichts anmerken zu lassen, hatten ihn ihre Worte über Vladimir beunruhigt.
Es waren deine Augen!
Konnte Alexandra recht haben? Aber wie war das möglich? Er hatte selbst gesehen, wie Andrej zu Staub zerfallen war. Wie konnte er da von einem der Jäger Besitz ergriffen haben? Dennoch ergab es erschreckend viel Sinn. Seine Augen, der hypnotische Blick, die äußerlichen Veränderungen, von denen Alexandra gesprochen hatte. Gab es eine bessere Erklärung dafür, warum der Jäger plötzlich im Besitz der längst vergessenen Rezeptur für Lamienkraut sein sollte?
Dass ausgerechnet der Jäger, der sein Leben der Vernichtung von Vampyren verschrieben hatte, den Geist des Ersten Vampyrs heraufbeschworen haben sollte, wollte Lucian dennoch nicht glauben. Es widersprach allem, wofür die Jäger standen. Aber was war dann geschehen?
So sehr er sich auch bemühte, eine Antwort zu finden, warf jeder Erklärungsversuch nur weitere Fragen auf. Spekulationen würden sie nicht weiterbringen. Von nun an würde es nicht mehr genügen, den Splitter zu zerstören – nicht, wenn sie damit
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