Die Wildnis
Hund wiegte seinen Kopf in Jacks offener Hand.
»Braver Junge«, flüsterte Jack. »Was gibt’s denn?«
Der Hund winselte sanft und leise. Jack spürte seine Stimme in der Handfläche vibrieren. Die anderen Hunde kamen auch näher. Einer schnüffelte an ihm, woraufhin ein anderer nach dem vorwitzigen Hund schnappte.
Was ist hier los?
Der Mond tauchte hinter seiner lockeren Wolkendecke auf. Es war Halbmond, sein silbernes Funkeln fiel wie frischer Schnee über die Landschaft. Die Zelte wurden heller, die Schatten dahinter weniger düster. Jack sah sich um und versuchte, die umhergehenden Gestalten von Williams Wachen zu erkennen, aber er sah sie nicht. Vielleicht saßen sie irgendwo, beobachteten das stille Lager und waren sich sicher, jede verdächtige Bewegung sofort zu bemerken.
Die Hunde wendeten sich ab. Jack spürte ein kurzes Bedauern, als sie weg waren, und wollte sie fast wieder rufen. Doch welche Rolle sie auch immer an diesem Abend zu spielen hatten, sie war jetzt vorbei, und er war neugierig, was als nächstes kommen würde. Irgendetwas geht hier vor , dachte er. Er versicherte sich, dass er nicht schlief, aber die Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmung überzeugte ihn, dass er wach war. SeinSchädel dröhnte, und sein Hals, seine Arme und Beine und seine Rippen schmerzten von den Prügeln, die die Sklaventreiber ihm verpasst hatten. Doch die Schmerzen waren frisch und lebendig und so überraschend wie das plötzlich zurückkehrende Gefühl, nachdem man fast erfroren war.
Er sah über das Lager hinaus und wusste intuitiv, was immer als nächstes geschah, würde von außerhalb kommen. Und da sah er den Wolf.
Er stand unterhalb des Waldrandes, etwa dreißig Meter vom Lager entfernt, einen steilen Hang hinauf, der vom Fluss zu den höher gelegenen Hügeln reichte. Er stand an genau der richtigen Stelle, um vom eben hervorgetretenen Mond beschienen zu werden. Sein gefleckter grauer Pelz schien zu leuchten.
»Da bist du ja«, raunte Jack, und beim Klang seiner Stimme kam der Wolf auf ihn zu gelaufen. Aufs Lager zu. Nein! , dachte Jack. Nein, sie werden dich sehen, sie werden dich abknallen! Er sah sich hektisch nach den Schlittenhunden um, doch die hatten sich bereits in ihre Schlupfwinkel im Lager verdrückt wie Schatten in der Mittagssonne.
Jack konnte nur den Kopf des Wolfs und die Spitze seiner Rute sehen, während er mit sicherem Schritt und ohne das geringste Zögern näher kam.
»Sie werden dich sehen «, flüsterte er und sah sich verzweifelt nach den Wachposten um. Doch es war immer noch keine Spur von ihnen zu sehen. Nichts rührte sich zwischen den Zelten. Nichts rührte sich am Feuer.
Der Wolf verschwand zwischen den Zelten und tauchte nah bei einem verschlossenen Zelteingang auf. Er schnupperte am Zelt und ging dann auf Jack zu. Er war wunderschön. Seine Bewegungen waren elegant. Der Mondschein fiel in rollendenWellen auf sein Fell, und die Schatten tanzten wie Rauchwolken darüber. Seine Augen leuchteten hell, heller als das ausgehende Feuer, und wichen nie von Jacks Gesicht.
»Da bist du«, sagte Jack, als der Wolf drei Meter vor ihm stehenblieb. Jack schnupperte und roch den Tiergeruch, er machte die Augen zu und konnte den Wolf atmen hören.
Der Wolf kam noch näher und drückte die Schnauze gegen Jacks Hals.
Jack riss die Augen auf und sah dem Wolf direkt ins Gesicht. Langsam öffnete der das Maul und biss in Jacks Jackenkragen. Dann zog er daran.
Er will, dass ich mitkomme , begriff Jack. »Aber …«
Der Wolf knurrte sehr leise und stürzte sich dann auf Jacks Füße. Sekunden später hatte er die Fesseln durchgebissen, mit denen Jacks Füße zusammengebunden waren, und einige Herzschläge später hatte er auch das Seil durchgebissen, mit dem Jack an den Pfosten gebunden war. Er drehte den Kopf und sah an Jack vorbei zum Wald, aus dem er gekommen war. Wieder knurrte er. Diesmal etwas lauter.
»Merritt«, entgegnete Jack. »Wenn ich abhaue und er zurückbleibt, bringen sie ihn um.«
In einer blitzartigen Bewegung packte der Wolf seine Hand mit den Zähnen. Er spürte seine feuchte Zunge, seine innere Hitze und den Druck, wo ihm die Zähne ins Fleisch bohrten. Er will mich schleppen!, erkannte er erschreckt, und wusste, er konnte sich unmöglich dagegen wehren. Doch der Wolf biss einmal leicht zu, ließ ihn dann los und ging ein paar Schritte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Jack ging in die Hocke und verzog das Gesicht vor Schmerzen, als das Blut in seine
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