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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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dass er den ganzen Tag mit potenziellen Geldgebern sprechen müsse und sie sich direkt dort treffen würden. Er wollte vor ihr dort sein, damit sie keinen Grund hätte, ihn zu verdächtigen. Ständig sorgten er und Willa sich, sie könnte es herausfinden. Oder Albie.
    »Zeig mir doch noch deine Fotos, bevor ich gehe«, bat er Willa.
    »Ach ja. Die Fotos. Die habe ich ganz vergessen. Bei dir vergesse ich alles.«
    Ihm ging es genauso. Er vergaß so viele Dinge, die er nicht hätte vergessen dürfen – dass er verheiratet war, dass seine Frau ihn liebte, dass sie schwanger war.
    So kann es nicht weitergehen, dachte er, als er zusah, wie Willa in ihre Bluse schlüpfte. Sie beide wussten das. Aber er ertrug den Gedanken nicht, sie wieder loszulassen. Noch nicht.
    Sie durchwühlte eine große Mappe, die sie mitgebracht hatte, und stieg dann mit einem Stapel Schwarz-Weiß-Fotos wieder ins Bett. Sie stammten vom Everest. Er hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen, weil er nicht bei ihrem Vortrag gewesen war. Aber er wollte unbedingt ihre Arbeit, den Everest und Rongbuk, ihren Wohnort, sehen. Deshalb hatte er sie gebeten, sie heute mitzubringen.
    »Die werde ich für mein Buch verwenden«, erklärte sie und legte ihm den Stapel in den Schoß. »Der Text ist schon fertig. Die Royal Geographical Society hat einen Lektor engagiert, und in etwa drei Monaten geht das Buch in Druck.«
    »Das ist großartig, Willa. Gratuliere!«, sagte Seamie. »Ich bin mir sicher, es wird ein durchschlagender Erfolg. Zeig mal her.« Er hielt das erste Bild hoch, und es verschlug ihm sofort die Sprache angesichts der Schönheit und Genauigkeit der Fotografie, angesichts der überwältigenden Majestät des Everest.
    »Das ist der Nordhang«, erläuterte Willa. »Von der Spitze des Gletschers aufgenommen. Dort hab ich zwei Wochen kampiert. Und auf gutes Wetter gewartet. Aber es war immer bewölkt. Am letzten Tag, morgens, als ich gerade Tee kochte, rissen die Wolken plötzlich auf. Ich wusste, das würde nicht lange anhalten. Ich hatte nur etwa dreißig Sekunden. Gott sei Dank war die Kamera schon aufgebaut. Ich legte schnell eine Platte ein, und kurz bevor sich die Wolkendecke wieder schloss, drückte ich ab.«
    »Es ist unglaublich«, bestätigte Seamie.
    Er sah das nächste Bild an. Und die folgenden. Aufnahmen von dem Berg, dem Gletscher, den Wolken und von Rongbuk und seinen Bewohnern. Von Lhasa. Vom Südhang des Everest, von Nepal aus aufgenommen. Er sah die Straßen von Kathmandu. Straßenverkäufer und Priester. Händler, die über einen tückischen Pass zogen. Kinder, die mit scheuem Blick, aber leuchtenden Augen aus einem Zelteingang in die Kamera blickten.
    Währenddessen erzählte ihm Willa allerlei Geschichten, wie es zu den Aufnahmen gekommen war. Was für Leute der lachende Priester oder die schöne Frau des Bürgermeisters waren. Und wie absolut heimtückisch der Zar-Gama-Pass war.
    Er fragte sie nach dem Everest, und sie erklärte ihm, sie sei überzeugt, dass er über die Südflanke von Nepal aus leichter zu besteigen sei, aber die Nepalesen sähen es nicht gern, wenn westliche Ausländer auf ihrem Berg herumkletterten. Die Tibeter seien eine Spur aufgeschlossener. Jede ernsthafte Besteigung müsste also von Tibet aus starten und die Nordflanke angreifen.
    »Kannst du dir das vorstellen?«, fragte Seamie. »Der Erste auf diesem Berg zu sein? Der Erste auf dem Everest? Jeder will, dass England diesen Sieg erringt.«
    »Dann muss sich England aber beeilen«, antwortete Willa. »Die Franzosen und Deutschen wollen das Gleiche. Der Erfolg hängt von der Vorbereitung ab, nicht nur vom technischen Können. Auch vom Durchhaltevermögen. Man muss ein gutes Basislager aufbauen und danach eine Kette weiterer Lager. Die Hälfte der Gruppe übernimmt den Aufbau und die Proviantversorgung mithilfe von Sherpas. Danach steigen sie ab, bevor die Höhenkrankheit sie umbringt. Dann steigt die andere Hälfte auf – die besten Kletterer. Die besten und zähesten. Sie müssen unglaublich schnell auf- und genauso schnell wieder absteigen. Und Wind, Wetter und Temperatur müssen auch mitspielen.«
    Sie deutete auf bestimmte Stellen am Nordhang, die sie für die Lager am besten geeignet hielt. Seamie hörte zu, nickte und stellte eine Menge Fragen. Seit der Expedition mit Amundsen hatte er keine solche Begeisterung mehr gespürt. Ein paar glückliche Momente lang war es wieder so wie damals in Afrika, als sie zusammen gereist, kampiert und den Aufstieg

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