Die Wildrose
auf den Kilimandscharo geplant hatten. Sie waren eins.
Seamie sah sie an, als sie auf einen dunklen Fleck unterhalb eines Jochs deutete und meinte, sie wisse einfach nicht, ob es sich um einen Schatten oder um eine Felsspalte handle, und das Herz tat ihm weh vor Liebe für sie. Er sehnte sich nach ihrem Körper, wollte ständig mit ihr schlafen, aber noch mehr sehnte er sich nach dieser Seelenfreundschaft.
Er wandte sich ab, weil er das quälende Verlangen nach ihr nicht mehr aushielt, und nahm wieder das erste Foto in die Hand. »Er ist so wunderschön«, sagte er.
Willa schüttelte den Kopf. »Er ist mehr als das, Seamie. Meine Bilder werden ihm nicht gerecht. Sie fangen die Schönheit des Berges nicht ein. Ach, wenn du ihn bloß sehen könntest. Ich wünschte, ich könnte ihn dir zeigen. Ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen, wenn du das erste Mal den Blick darauf wirfst. Ich wünschte …«
Sie brach plötzlich ab.
»Was ist denn?«, fragte er.
»Das werden wir nie, oder? Den Everest gemeinsam sehen.«
Er wandte sich ab. Es wurde langsam dunkel. Er musste jetzt schleunigst gehen. Zur Royal Geographical Society, wo man ihn erwartete. Und dann nach Hause, wo er hingehörte.
Als spürte sie, was er fühlte und dachte, lehnte sich Willa an ihn. »Wir müssen damit aufhören«, sagte sie leise.
Er lachte traurig. »Das würde ich ja, Willa. Wenn ich nur wüsste, wie.«
35
D as ist der Funke im Pulverfass«, rief Churchill erregt. »Ganz zweifellos.«
Stimmengewirr erhob sich und begeisterter Beifall brandete auf.
»Und wir können den Funken anfachen oder ersticken«, erwiderte Joe genauso vehement. »Wir sind im zwanzigsten Jahrhundert, nicht im Mittelalter. Wir müssen unsere Streitigkeiten am Verhandlungstisch beilegen, nicht auf dem Schlachtfeld austragen.«
»Hört, hört«, riefen einige Abgeordnete.
Joe saß in einem abgeschiedenen Raum im Reform Club, dem politischen Hauptquartier der Liberalen. Er mochte das altehrwürdige Gebäude mit seinen Marmor- und Spiegelverkleidungen, der palastartigen Galerie und dem großartigen Glasdach und nahm sich bei seinen Besuchen gewöhnlich Zeit, es zu bewundern. Er streifte durch die vielen Räume und Korridore, studierte die Porträts vergangener Whig-Politiker oder blätterte in den Bänden der großen Bibliothek.
Heute Abend jedoch war er dazu nicht in der Stimmung.
Vor ein paar Stunden war Erzherzog Franz Ferdinand, der österreichisch-ungarische Thronerbe, gemeinsam mit seiner Frau in Sarajevo erschossen worden. Der Mörder des kaiserlichen Paars war ein junger serbischer Nationalist namens Gavrilo Princip.
Die Nachricht vom Tod des Erzherzogs hatte sowohl das Unter- wie das Oberhaus in helle Aufregung versetzt. Die Regierung hatte öffentlich verlautbart, mit Ruhe und Besonnenheit auf das unheilvolle Ereignis zu reagieren, und sich hinter den Kulissen bemüht, eine internationale Katastrophe zu verhindern. Österreich-Ungarn hatte von Serbien sofortige Vergeltung gefordert, und Deutschland tobte und versicherte, seinem Verbündeten zur Seite zu stehen. Sir Edward Gray, der Außenminister und Minister für Commonwealth-Angelegenheiten, war umgehend auf eine höchst delikate diplomatische Mission geschickt worden.
Und jetzt um elf Uhr hatte sich der Premier mit Mitgliedern seines Kabinetts und einer kleinen Gruppe führender Politiker aller Parteien in den Reform Club begeben, um über das weitere Vorgehen gegenüber Österreich-Ungarn, Serbien und Deutschland zu beraten.
»Sarajevo ist genau der Anlass, auf den Deutschland gewartet hat«, donnerte Churchill, »und der Kaiser wird ihn nutzen. Er wird ihn zum Vorwand nehmen, um in Frankreich einzumarschieren und dabei Belgien zu überrennen. Wir müssen Deutschland sofort wissen lassen, und zwar mit aller Deutlichkeit, dass wir seine Einmischung in diese Angelegenheit nicht dulden werden.«
»Können wir damit nicht warten, bis sie uns erklären, dass sie sich einmischen wollen?«, fragte Joe, von Hohnrufen und Gelächter begleitet.
Winston wartete, bis sich der Lärm gelegt hatte, und erwiderte: »Der ehrenwerte Abgeordnete von Whitechapel ist leider blind. Er kann die fatalen Folgen eines Zögerns nicht sehen.«
»Nein, das kann ich nicht«, schoss Joe zurück. »Die Konsequenzen eines übereilten Handelns dagegen schon. Ich kann die Folgen hitzköpfiger Reaktionen sehr wohl absehen, wenn eigentlich Geduld und Langmut gefordert wären. Ich kann durchaus erkennen, welche
Weitere Kostenlose Bücher