Die Wildrose
anstrengend.
»Sir George erfährt immer als Erster, wenn ein Schiff torpediert wurde und wie viele Männer umkamen«, erklärte sie. »Das geht nicht spurlos an ihm vorbei. An uns allen nicht. Aber ich darf mich nicht beklagen. Viele sind noch viel schlechter dran.«
Jennie hatte ihre Hand genommen und ihr leise zugeflüstert: »Zumindest ist es tröstlich für uns zu wissen, dass wir gemeinsam mit Mr von Brandt unseren Teil dazu beitragen, unschuldigen Menschen das Leben zu retten. Vielleicht tragen wir sogar zum schnelleren Ende dieses schrecklichen Krieges bei.«
Vielleicht hatte sie es sich bloß eingebildet, aber die ohnehin schon blasse Gladys war bei der Nennung von Mr von Brandts Namen noch bleicher geworden.
»Ja, Jennie«, antwortete sie und zog ihre Hand weg. »Das stimmt.«
Jennie hatte Max nie mehr erwähnt, aber weiterhin die Umschläge angenommen, die Gladys ihr nach den Treffen der Frauenrechtlerinnen gab. Genau wie Max von Brandt es vor dreieinhalb Jahren von ihr verlangt hatte.
Erst heute Abend, bevor die Frauen kamen und ihr Vater den kleinen James badete, war sie heimlich in den Keller der Kirche gestiegen und hatte den wöchentlichen Umschlag in den Kopf der zerbrochenen Statue des St. Nicholas gesteckt.
Sie hatte sich oft gefragt, ob der Mann, der ihn abholte, in ihrer Nähe war, wenn sie ihn hineinsteckte. Befand er sich im Tunnel und wartete, bis sie ging? Oder gar im Keller selbst und beobachtete sie? Der Gedanke ließ sie erschauern. Sie erledigte ihre Arbeit immer schnell, trödelte nie und war froh, wenn sie die Stufen wieder hinaufstieg und die Kellertür hinter sich schloss.
Nie hatte sie einen Umschlag geöffnet, kein einziges Mal, obwohl sie versucht gewesen war, es zu tun. Manchmal, während einer langen schlaflosen Nacht, fragte sie sich, ob Max ihr die Wahrheit gesagt, ob er wirklich nur friedenstiftende Absichten hatte. Sie erinnerte sich, wie er damals ihr Cottage in Binsey erwähnte und ihr vor Angst fast das Herz stehen blieb bei seiner hässlichen Drohung. Dann beschloss sie, den nächsten Umschlag zu öffnen, den Gladys ihr gab, um ein für alle Mal die Wahrheit herauszufinden.
Aber mit dem anbrechenden Tag gab sie ihren Entschluss wieder auf und sagte sich, dass sie den Umschlag nicht aufmachen durfte. Max von Brandt hatte ihr das verboten, und vermutlich hatte er seine Gründe dafür. Vielleicht wäre es ein Sicherheitsrisiko. Vielleicht würde der Umschlag nicht angenommen werden, wenn er geöffnet worden war. Vielleicht würde sie das Leben eines unschuldigen Menschen gefährden mit ihrer albernen Neugier.
All das redete sich Jennie ein, denn anzunehmen, dass Max ein anderer war als der, für den er sich ausgab, dass er sie womöglich benutzte, um Deutschland zu helfen und Britannien zu schaden, war für sie undenkbar. Und deshalb weigerte sie sich, das zu glauben. Im Lauf der vergangenen Jahre war sie sehr geschickt darin geworden, über schwierige Dinge nicht weiter nachzudenken.
»Ich hab gehört, dass viele Soldaten Grippe bekommen haben«, sagte Lizzie und lenkte Jennies Gedanken von Max und Gladys ab. »Diese neue … die Spanische Grippe. Die soll schlimmer sein als alle anderen. Angeblich soll man innerhalb eines Tages daran sterben.«
»Als hätten wir nicht schon genug Sorgen«, seufzte Allie. »Jetzt auch noch das.«
»Allie, wie macht sich Sarah in der Sekretärinnenschule?«, fragte Jennie und versuchte erneut, das Gespräch von beklemmenden Themen abzulenken.
»Ach, sie ist total begeistert!«, antwortete Allie strahlend. »Ihr Lehrer sagt, sie sei die Klassenbeste und dass er sie für die Buchhaltung bei Thompson’s empfehlen will, das ist eine Stiefelfabrik in Hackney.«
»Das freut mich aber!«, erwiderte Jennie, denn Sarah war eine ehemalige Schülerin von ihr.
»Sie war schon immer ein schlaues Mädchen, deine Sarah«, sagte Lizzie beifällig.
Während das Gespräch zu anderen Kindern überging, strickte Jennie einen Socken fertig. Sie wollte gerade mit einem neuen anfangen, als sie im Gang Kindergetrappel und ein Stimmchen »Mummy! Mummy!« rufen hörte.
Sie blickte auf und sah einen kleinen blonden Jungen mit haselnussbraunen Augen und rosigen Wangen in die Küche rennen – ihren Sohn James. Ein strahlendes Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten. Sie spürte, wie ihr das Herz vor Liebe aufging, wie immer bei seinem Anblick.
»Darf ich ein Plätzchen haben, Mummy? Großvater hat gesagt, ich bekomme etwas Milch und Plätzchen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher